Julia Extra Band 0303
ihrer Freunde entsprach ihr Temperament durchaus ihrer feurigen Haarfarbe, was Kirsten selbst allerdings für eine bodenlose Übertreibung hielt. Okay, sie geriet vielleicht ziemlich schnell in Rage, wenn man sie über die Maßen reizte, doch normalerweise hatte sie sich ganz gut im Griff.
Wäre es anders, würde sie auf der Stelle von Rowe Sevrin Aufklärung darüber fordern, was er hier zu suchen hatte!
Denn es gab keinen Grund dafür, dass sich ein Vicomte de Aragon, der diesen Titel zwar selten benutzte, ihrer Führung anschloss, wenn er sich die Kunstschätze anschauen wollte, zwischen denen er aufgewachsen war.
Und selbst dann musste er sie nicht so unverschämt anstarren! Das vermittelte ihr den Eindruck, als sei er mehr an ihrer Person als an ihrem Vortrag interessiert. Aber warum?
Kirsten trat unbehaglich von einem Bein auf das andere, was nur eine neue Schmerzwelle auslöste, die von ihren armen Füßen bis ins Hirn ausstrahlte. Doch diesmal nahm sie es kaum wahr, weil sie durch ganz andere, verwirrende Emotionen abgelenkt wurde, die Romains eindringliche Inspektion in ihrem Innern auslöste.
Erst jetzt registrierte Kirsten, dass ihr Pulsschlag bedenklich in die Höhe schoss. Und die Raumtemperatur, die zum Schutz des kostbaren Interieurs gleichbleibend war, schien sich massiv erhöht zu haben. Kirsten widerstand der Versuchung, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, da dieser sicher nur ein Produkt ihrer Einbildung war – ebenso wie die Interpretation von Romains unablässigem Starren.
Trotzdem! Was wollte er hier?
Einer der Besucher verlangte nach ihrer Aufmerksamkeit. „Betrifft die Legende ausschließlich Mitglieder der Herrscherfamilie?“
Mit Rowe als Zuhörer wünschte Kirsten, sie hätte diesmal auf die Merrisand-Legende verzichtet. Aber dazu war es zu spät.
Sie räusperte sich leise, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. „Die Legende besagt, dass jeder , der dem Merrisand-Trust aufrichtig dient, seine wahre Liebe finden wird. Also betrifft es nicht ausschließlich das Adelsgeschlecht.“
Rowe schien diesen Teil ihres Vortrags ganz besonders aufmerksam zu verfolgen, deshalb mied Kirsten tunlichst seinen Blick und wandte sich einem Mann zu, der offenbar auch noch eine Frage loswerden wollte.
„Wie groß ist das Merrisand-Anwesen?“
Erleichtert stürzte Kirsten sich auf ein Thema, das ihr im Moment weit weniger verfänglich erschien. Dennoch konnte sie Rowe, wie sie ihn inzwischen auch für sich nannte, nicht ganz aus ihrem Bewusstsein verbannen. Er musste unauffällig an sie herangerückt sein, denn den maskulinen Duft dieses herben Rasierwassers, kombiniert mit etwas Frischem, Erdigem, hatte sie bisher nicht wahrgenommen.
Ich bilde mir das ganz sicher nur ein! rief sie sich zur Ordnung und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Der Raum, oder besser Prunksaal, in dem sie sich befanden, war über hundert Quadratmeter groß, mit einer unglaublich hohen, gewölbten Decke, da würde sich jedes Aroma sofort verflüchtigen. Und trotzdem verursachte ihr dieses Gemisch aus Sandelholz, Limone und etwas nicht Greifbarem eine wohlige Gänsehaut. Verärgert über sich selbst und ihre ausschweifende Fantasie strich Kirsten eine vorwitzige Strähne hinter ihr Ohr und räusperte sich.
„Als das Schloss im Jahre 1879 von Honoré de Marigny, dem ersten Marquis de Merrisand, erbaut wurde, umfasste der Grundbesitz etwa achthundert Hektar Hügelland, Waldflächen und kleine Farmen, die von Pächtern betrieben wurden. Über die Jahre und Jahrhunderte wuchs die Fläche auf sechzehn Millionen Hektar an, zu denen inzwischen ein großes Naturschutzgebiet gehört, um heimischen Tierarten einen möglichst natürlichen Lebensraum zu bieten. Das Emblem zum Schutz der Fauna findet sich auch im Familienwappen wieder.“
Honoré müsste Rowes Ur-ur-urgroßvater gewesen sein, hätte Kirsten am liebsten hinzugefügt, konnte sich aber gerade noch bremsen.
Der Fragesteller nickte nachdenklich und schien die Information erst einmal verdauen zu müssen. Dann meldete sich ein Mädchen im Teenageralter, das wie in der Schule die Hand hob und mit den Fingern schnipste.
„Wie sind Sie an diesen Job hier im Schloss gekommen?“
Das war eine ungewöhnliche Frage, doch Kirsten ließ sich nicht irritieren.
„Château Merrisand ist wie eine Stadt im Miniaturformat angelegt“, erklärte sie freundlich. „Mit Karrierechancen in vielerlei Hinsicht. Das reicht von der Landwirtschaft über Verwalterposten,
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