Julia Extra Band 0303
zu sträuben.
„Meine Mutter war natürlich entsetzt. Nach dem Verlust meines Vaters hätte sie mich am liebsten in Watte gepackt, aber sie wusste auch, wo ihre Grenzen lagen. Mir hingegen hatte das Schicksal meines Vaters gezeigt, wie schnell alles vorbei sein kann. Und gerade deshalb wollte ich die mir bemessene Lebenszeit nicht hinter irgendeinem muffigen Schreibtisch verbringen.“
Hatte er sich deshalb auch auf einen One-Night-Stand mit Natalie eingelassen? Einfach aus dem Verlangen heraus, mehr von seinem Leben zu haben als sein Vater?
Okay, das konnte sie im Zweifelsfall sogar nachvollziehen. Aber nicht, dass Rowe die Geburt seines eigenen Kindes ignoriert hatte! Bewusst verhärtete Kirsten ihr Herz gegen den Mann an ihrer Seite, befreite ihren Arm aus seinem und brachte ein wenig Abstand zwischen sich und den Vicomte de Aragon .
Doch da standen sie auch schon vor einem zweisitzigen Sportwagen, den ein ehemaliger Rennfahrer bestimmt als ein passendes Gefährt für konventionelle Landstraßen ansehen würde. Misstrauisch beäugte Kirsten den schnittigen Flitzer.
Grundgütiger! Rowe war ein großer Mann! Mit ihm am Steuer blieb ihr kaum noch Platz auf der Beifahrerseite. Wahrscheinlich würde sie halb auf seinem Schoß sitzen müssen!
„Ihrer?“, fragte sie überflüssigerweise.
Rowe interpretierte ihren angespannten Gesichtsausdruck fälschlicherweise als Furcht. „Keine Angst, heute werde ich ganz handzahm fahren“, versprach er mit einem beschwichtigenden Lächeln.
„Ist … ist der Wagen nicht viel zu klein für Sie?“
Sein Lächeln wurde breiter. „Sie haben ganz offensichtlich noch nie in einem Formel-1-Wagen gesessen. Dagegen ist dieses Schätzchen äußerst geräumig!“
„Dann ist das also kein Rennwagen?“, plapperte Kirsten weiter, einfach nur um Zeit zu gewinnen.
„Nein, es ist ein Prototyp, den ich einzig und allein zu meinem persönlichen Vergnügen entwickelt habe.“ Angesichts Kirstens verblüffter Miene lachte Rowe laut auf. „Ja, ich habe tatsächlich noch andere Talente, als meinen Titel vor mir herzutragen oder im Kreis herumzurasen“, spöttelte er.
Der Gedanke, was für verborgene Talente er wohl noch aufzuweisen hatte, trieb Kirsten heiße Röte in die Wangen, deshalb wandte sie sich rasch ab. Dabei wurde ihr bewusst, dass sie die ganze Zeit über voller Neugier von einer Touristengruppe beobachtet wurden.
War es das Auto oder der Mann, der ihr Interesse geweckt hatte?
Ich jedenfalls nicht! entschied Kirsten und beeilte sich, in der futuristisch anmutenden schwarzen Lederschale, die den normalen Beifahrersitz ersetzte, Platz zu nehmen.
Erst als niemand mehr zu sehen war, gestattete Kirsten sich einen erleichterten Seufzer. Außer während ihrer Arbeit als Fremdenführerin war sie es einfach nicht gewohnt, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Sie passierten zwei Wachposten, die Rowe selbstverständlich erkannten und zackig salutierten, und dann lag endlich das ausgedehnte, frisch aufgeforstete Waldgebiet vor ihnen, aus früheren Zeiten bekannt als der Große Park.
Abgesehen von zwei Tagen im Jahr und einigen Wohltätigkeitsveranstaltungen war dieser Teil des Anwesens für Publikum gesperrt. Von der Geschäftigkeit, die man überall rund ums Schloss spürte, war hier nichts zu sehen. Keine Menschenseele weit und breit. Es war so ruhig und friedlich, dass man sich meilenweit von jeglicher Zivilisation entfernt fühlte.
Als Schlossangestellte durfte Kirsten sich im Wald frei bewegen. Hier konnte sie das Gefühl, alles gehöre allein ihr, noch am besten kultivieren. Und so nutzte sie häufiger die Gelegenheit, mit Jeffrey Picknicks zu veranstalten oder Räuber und Gendarm zu spielen.
„Ich liebe dieses Fleckchen Erde …“, sagte sie gedankenverloren.
Rowe nickte und drosselte die Geschwindigkeit. „Ja, es ist sehr friedlich hier. Ich befürchte nur, ich kann nie wieder hier durchfahren, ohne nach Ur-ur-ur-urgroßvater Pierre mit seinen durchgehenden Gäulen Ausschau zu halten“, scherzte er.
„Damals sah der Wald garantiert ganz anders aus“, vermutete Kirsten. „Urwüchsig und voll wilder Tiere. Jetzt weiß ich endlich, woher einige der Trophäen stammen, die in der Turm-Halle an der Wand hängen. Arme Viecher …“
Rowe lachte. „Kutschen-Verkehrsopfer des ausklingenden siebzehnten Jahrhunderts meinen Sie?“
„Höchstwahrscheinlich. Heutzutage halten sich die Wildtiere glücklicherweise meist von den Straßen fern. Durch die ständige
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