Julia Extra Band 0305
überreagieren. Aber das war leichter gesagt als getan, da sie keinen Zweifel daran hegte, dass Amanda zutiefst unglücklich war.
„Hier geht es nicht um kindliche Unaufmerksamkeit“, erklärte sie mit fester Stimme. „Es ist richtig, dass meine anderen Pflichten mir nur wenige Stunden in der Woche Zeit für meine Schüler lassen, und genau deshalb habe ich mit den anderen Lehrern konferiert, um sicherzugehen, dass mein Eindruck richtig ist. Alle sind mit mir einer Meinung, dass Amanda sich hier in Merrisand nicht wohl, geschweige denn zu Hause fühlt.“
Während sie sprach, ließ sie ihren Blick durch den Raum wandern und verharrte bei den Stapeln unausgepackter Kisten. War Amanda vielleicht nicht die Einzige, der es schwerfiel, in Merrisand heimisch zu werden?
Sein Lächeln verschwand und machte einem Ausdruck Platz, der sie mitten ins Herz traf. Er lag irgendwo zwischen Verstörtheit und Schuldbewusstsein. „Ich frage jeden Tag nach, aber was die Schule betrifft, bekomme ich kaum etwas aus ihr heraus. Außer, dass sie die Geschichtsstunden stinklangweilig findet.“
Das klang so frappierend aufrichtig, dass Giselle schmunzelte. „Geschichte ist also nicht ihr Steckenpferd, ja?“
„Es gibt andere Fächer, die ihr lieber sind.“
„Zum Beispiel?“
Bryce musste einen Augenblick nachdenken. „Für Kunst kann sie sich regelrecht begeistern. Ich habe ihr versprochen, mich so bald wie möglich um einen Platz zu kümmern, an dem sie malen kann.“
Wenn mal ein Stündchen Zeit abfällt, ergänzte Giselle im Kopf. „Ich vermute, die Arbeit im Tierpark nimmt Sie ganz schön in Anspruch?“ Es hatte nicht wie eine Rüge klingen sollen, wirkte aber dennoch so.
Bryce zog auch prompt die Brauen zusammen. „Das Wildgehege wieder in Topform zu bringen ist eine ziemlich umfassende Aufgabe. Prinz Maxim erzählte mir, dass Sie eine Zeit lang keinen Wildhüter angestellt hatten.“
„Das stimmt. Nachdem Ihr Vorgänger unerwartet wegen einer schweren Erkrankung in den Vorruhestand gehen musste, erwies es sich als ziemlich schwierig, einen adäquaten Nachfolger für ihn zu finden. Die anderen Mitarbeiter haben ihr Bestes gegeben, aber ohne eine leitende Hand können die Zügel schon einmal schleifen. Natürlich gibt es deshalb eine Menge aufzuarbeiten.“
„Was in Ihren Augen aber keine Entschuldigung dafür ist, nicht zu merken, wenn es der eigenen Tochter schlecht geht, nicht wahr?“
Giselle zögerte nur einen Wimpernschlag, dann nickte sie. Dieses wenn auch versteckte Eingeständnis hatte sie von ihm nicht erwartet. Beurteilte sie ihn vielleicht doch falsch, was seine Vaterqualitäten betraf?
„Es ist sicher nicht einfach, ein Kind allein großzuziehen.“
„Viel schwerer, als ich es je erwartet hätte“, bekannte Bryce offen. „Und dabei meine ich nicht nur den Spagat zwischen Arbeit und Kinderbetreuung, sondern auch den Versuch, ihr die Mutter so gut wie möglich zu ersetzen. Hinzu kommt noch das Wissen, wie sehr Amanda sie vermissen muss.“
Giselle schwieg einen Moment. „Wie war Amandas Leben, bevor sie nach Merrisand kam?“, fragte sie dann sanft.
Bryce schien mit sich zu ringen, wie viel Einblick er der Prinzessin in sein Privatleben gewähren wollte. Doch dann gab er sich einen sichtbaren Ruck, und Giselle atmete erleichtert auf.
„Wir waren einmal eine sehr glückliche Familie“, begann er mit rauer Stimme. „Bis Yvette überraschend erkrankte. Und selbst in den Jahren nach der Diagnose gab es noch viele Momente voller Lebensfreude. Meine Frau hat darauf bestanden.“
„Und Amanda?“
„Sie war ein ganz normales, gesundes Kind. Wir versuchten, sie so wenig wie möglich mit Erwachsenenproblemen zu belasten. Sie wusste zwar, dass ihre Mutter ernsthaft krank war, doch wir sorgten dafür, dass sie dennoch eine unbelastete Kindheit haben durfte … so weit das eben möglich war. In Eden Valley hatte sie ein eigenes Pferd, war viel mit Freunden unterwegs und malte fast jeden Tag voller Leidenschaft. Das ist übrigens eines ihrer Bilder.“
Er wies mit dem Finger auf ein gerahmtes Gemälde, das als einziges einen Ehrenplatz über dem Kamin bekommen hatte. Andere standen auf dem Boden, an die Wand gelehnt. Giselle erhob sich, um das Bild eines weiblichen Sonnenhirsches mit seinem Kalb vor dem Hintergrund eines dunklen Waldes besser betrachten zu können.
Da sie inmitten einer respektablen Kunstsammlung aufgewachsen war und Amandas Leidenschaft fürs Malen und Zeichnen teilte, erkannte
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