Julia Extra Band 0305
sie auf den ersten Blick die Begabung des jungen Mädchens. Ihr eigenwilliger, noch jugendlich naiver Malstil war außerordentlich vielversprechend und entwicklungsfähig.
„Sie hat wirklich Talent“, stellte Giselle versonnen fest.
Bryce, der an ihre Seite getreten war, nickte zustimmend. „Leider hat sie, seit wir hier sind, keinen Pinsel mehr angefasst.“
„Und das hat Sie nicht beunruhigt?“
„Ich dachte, es liege vielleicht an der neuen Umgebung. Dass es momentan einfach zu viele Ablenkungen gibt, oder dass sich ihr Interesse vorübergehend auf etwas anderes verlagert hat. Als sie noch kleiner war, wollte sie eine Weile unbedingt Balletttänzerin werden …“, verteidigte er sich automatisch.
Giselle dachte an ihren Kindheitstraum, eine große Primaballerina zu werden. Ballettunterricht war Teil ihrer Ausbildung, die ihr jedoch auch vermittelte, dass sie als Prinzessin keine Wahl hatte, was ihre Karrierevorstellungen betraf.
„Nach Yvettes Tod war die Malerei eigentlich ihr einziges Hobby“, fuhr Bryce nachdenklich fort. „Als sie auch damit aufhörte, hätte ich mir in jedem Fall Gedanken machen müssen …“
„Manche Kinder können ihre Gefühle ebenso gut verstecken wie Erwachsene.“ Meine ich nicht auch mich mit dieser Aussage?, fragte sich Giselle. Ihre Eltern erfuhren jedenfalls nie, wie sehr sie sich gewünscht hatte, Tänzerin zu werden.
„Wie auch immer“, kam Bryce abrupt zum Schluss. „Ich muss der Sache unbedingt auf den Grund gehen.“
„Genau deshalb bin ich hier. Als ich Amanda heute bat, noch einen Moment zu bleiben, und von ihr wissen wollte, ob sie hier glücklich sei, ist sie einfach aufgesprungen und weggerannt.“
Spontan und ohne nachzudenken, umfasste Bryce ihren Unterarm und zog Giselle zu sich herum. „Was ist das bloß für eine Schule, in der ein Kind so wenig Vertrauen zu seiner Lehrerin hat, dass es vor ihr wegläuft?“, stieß er erregt hervor.
Giselle, die das Gefühl hatte, einen Hieb ins Gesicht bekommen zu haben, blieb äußerlich absolut beherrscht. „Es geht hier einzig und allein um den momentanen seelischen Zustand Ihrer Tochter, Mr. Laws. Deshalb sollten Sie sich beruhigen, bevor Sie mit Amanda sprechen.“
Schlagartig schien Bryce zur Besinnung zu kommen. „Verzeihung, Eure Hoheit“, murmelte er heiser.
„Schon gut. Dies ist wirklich eine komplizierte Situation, die viel Feingefühl verlangt. Da ist jede Überreaktion wenig hilfreich.“
Er lachte rau. „Stammt diese Erkenntnis auch aus dem Handbuch für Prinzessinnen?“
Giselle musterte ihn kühl. „Das sagt mir mein gesunder Menschenverstand.“
Ein Motorengeräusch von draußen ließ sie beide aufhorchen und in Richtung Tür schauen. Als sich ihre Blicke wieder trafen, schämte sich Giselle ihrer ersten Einschätzung, dass Bryce kein guter Vater sei, angesichts der Angst, gemischt mit wilder Hoffnung, die sich auf seinem dunklen Gesicht widerspiegelte. So sah kein Mann aus, dem nichts an seinem Kind lag.
Kurz darauf geleitete die Haushälterin den Bodyguard Kevin Jordan und die trotzig dreinschauende Amanda ins Wohnzimmer. Kevin erstattete der Prinzessin sachlich Bericht und zog sich dann mit einer höflichen Verbeugung zurück.
Amanda musterte ihren Vater heimlich aus den Augenwinkeln. Und der fühlte sich hin und her gerissen zwischen dem Drang, seine Tochter fest in die Arme zu schließen, und der schwelenden Wut, dass sie ihm einen derartigen Schock versetzt hatte, dass sein Herz immer noch schwer wie ein Stein in der Brust lag.
Das Mädchen versuchte gar nicht, ihre Empörung über die Zwangsbegleitung zu verbergen, und starrte jetzt Giselle voller Misstrauen an. „Was will die denn hier?“
„Prinzessin Giselle war so freundlich, sich ernsthafte Sorgen um dein Wohlbefinden zu machen, und du wirst ihr gefälligst den gebührenden Respekt zollen!“, forderte Bryce streng.
Amanda schwieg verbissen, aber ihre Unterlippe begann zu zittern.
„Amanda?“ Der Ton ihres Vaters duldete keinen Widerspruch.
„Danke, dass Sie sich um mich gesorgt haben, Prinzessin“, spulte das Mädchen monoton herunter.
Ihr Vater entspannte sich sichtbar. „Und es wird nie wieder vorkommen.“
„Und es wird nie wieder vorkommen“, echote Amanda brav.
Giselle krümmte sich innerlich für das Mädchen zusammen, doch ihre Miene blieb neutral, weil sie Bryces Autorität nicht untergraben wollte. „Freut mich zu hören. Verrate mir trotzdem, warum du einfach weggerannt bist, als ich
Weitere Kostenlose Bücher