Julia Extra Band 0309
kommen. Ich war nach der Schule auf dem Weg in sein Büro. Während ich auf der anderen Straßenseite stand, küsste er die Frau. Mitten auf dem Gehweg im Feierabendverkehr – mein Vater, den die ganze Stadt kennt. Ohne einen Gedanken an Diskretion oder Anstand oder die Frau, von der die ganze Welt glaubte, sie sei seit dreißig Jahren glücklich mit ihm verheiratet.“
Er blinzelte, riss den Blick von der Aussicht auf die Stadt los und sah sie an. Sie stand still wie eine Statue. Ihre grauen Augen ermutigten ihn fortzufahren. Sich weiter vorzuwagen als jemals zuvor.
„Meine Mutter … Es war für sie nicht leicht, mit einem Mann wie meinem Vater verheiratet zu sein. Die Überstunden, das Ego und seine vier dickköpfigen Kinder, die sie vor den Augen der Öffentlichkeit großziehen musste. Doch sie hat sich nie beklagt. Dass er sich ihr gegenüber so respektlos verhielt, uns allen gegenüber …“
Bei der Erinnerung, wie er damals den Impuls unterdrückt hatte, seinen Vater niederzuschlagen, ballte er die Hände so fest zusammen, dass sich die Fingernägel in seine Handflächen bohrten.
„Ich werde nie so sein wie er“, sagte er. „Mir ist es lieber, du gehst jetzt, ehe ich dich noch verletze. Ehe du dir Hoffnungen machst, dass ich dir eines Tages mehr bieten kann. Denn das kann ich nicht. Weil ich weiß, dass die meisten Beziehungen irgendwann unter der Last von Lügen und Geheimnissen zerbrechen.“
Er musste tief durchatmen, um die plötzliche Beklemmung in seiner Brust zu lösen.
„Cameron“, seufzte sie, „du erwartest viel zu viel von den Menschen.“
„Nicht mehr als von mir selbst.“
„Auch von dir selbst erwartest du zu viel.“
Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her. „So wie dein Vater dich und deine Mutter behandelt hat, findest du Loyalität und Verlässlichkeit zu viel verlangt?“
Ein Muskel in ihrer Wange zuckte, doch sie hielt seinem Blick stand. „Für manche Menschen ist es zu viel verlangt.“
Er schüttelte heftig den Kopf. „Tut mir leid, aber das kann ich nicht akzeptieren.“
„Das ist wirklich schade.“
Es klingelte an der Tür. Das Taxi war da.
Ihre Augen sagten: Bitte mich zu bleiben.
Ihr erhobenes Kinn und der steife Nacken jedoch sagten: Lass mich gehen.
Er wandte sich wieder ihren Augen zu. Ihren schönen, traurigen, grauen Augen, so offen, dass er das Gefühl hatte, hineinzufallen, mehr zu wollen, als er wusste geben zu können. Er riss sich zusammen, gerade noch rechtzeitig. „Ich rufe dich an.“
Sie nickte, schenkte ihm ein kurzes Lächeln, aus dem jede Leichtigkeit verschwunden war, und verschwand, ohne sich umzusehen.
10. KAPITEL
Rosie war erschöpft, fand aber keinen Schlaf.
Um Punkt Viertel vor drei stand sie auf.
Die Venus zeigte sich erst eine Stunde vor Sonnenaufgang, doch Rosie war lieber draußen, als an die niedrige Decke ihres Wohnwagens zu starren und sich zu fragen, wie sie es hatte zulassen können, Cameron in ihr Leben zu lassen.
Fröstelnd zog sie eine flauschige knielange Strickjacke, einen grauen Schal, eine dicke rote Mütze mit zwei dicken Bommeln und die Jeans vom Vortag über ihren Flanellpyjama. Sie setzte nicht einmal ihre Kontaktlinsen ein, sondern behielt die Brille auf.
Mit dem schweren Rucksack war die Wanderung zum Plateau alles andere als belebend. Es war kalt, ungemütlich, und als sie ankam, war der Himmel wolkenverhangen.
Sie baute das Einmannzelt auf, warf ihre Sachen hinein und legte eine beschichtete Picknickdecke auf das feuchte Gras. Sie stellte das Teleskop auf und schaltete die batteriebetriebene kleine Lampe, die an ihrem Notizbuch befestigt war, an.
Im Schneidersitz wartete sie darauf, dass die Wolkendecke aufriss. Die Zeit verstrich, doch nichts geschah. Kein Mysterium, keine Erhabenheit, nichts, dass sie von ihrem irdischen Kummer ablenkte. Sie ließ sich auf die Decke sinken und schloss die Augen.
Sie und Adele hatten sich beide geirrt. Cameron war gar nicht anders als die anderen. Alle verließen sie irgendwann – räumliche Nähe hatte damit nichts zu tun.
Sie hörte einen Zweig knacken und schlug erschrocken die Augen auf.
Vielleicht ein Opossum. Oder die Katze, die angeblich in dieser Gegend herumstreunte. Oder doch ein irrer Axtmörder?
Rosie sprang auf, das Ersatzstativ in der Hand, und spähte in die Dunkelheit, als Cameron aus dem Gebüsch auftauchte.
„Was machst du denn hier?“, schrie Rosalind und wedelte mit dem großen schwarzen Metallständer in der Luft herum.
Er nahm
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