Julia Extra Band 0309
aber jetzt … jetzt war alles viel schwieriger.
Dass er ihr heute Vormittag mangelnde Ehrlichkeit vorgeworfen hatte, nagte schmerzhaft an ihr. Und zwar weil sie es selbst so empfand. Sie war ihm gegenüber nicht ehrlich – und, was weitaus schlimmer war, auch ihrem Sohn gegenüber nicht.
Wer wüsste besser als sie, wie schlimm es war zu erfahren, dass alles, woran man sein Leben lang geglaubt hatte, sich plötzlich als Lüge entpuppte? Es zog einem den Boden unter den Füßen weg. Wollte sie wirklich, dass ihrem Kind dasselbe widerfuhr wie ihr?
Gegen Abend, als sie hineinging, um sich für das Abendessen umzuziehen, hatte Kerry einen schwerwiegenden Entschluss gefasst. Sie würde Theo die Wahrheit sagen und ihm von Lucas erzählen. Die Konsequenzen waren ihr durchaus bewusst: Theo würde im Leben seines Sohns eine Rolle spielen wollen. Die würde sie ihm auch zugestehen, aber nie … nie würde sie zulassen, dass er ihr ihren Sohn wegnahm.
Sie war nicht wie Hallie. Sie würde Theo beweisen, dass sie eine gute Mutter war. Es war schließlich ihr Recht, ihren Sohn bei sich zu haben – dieses Recht konnte ihr niemand absprechen. Aber sie war bereit, einen Kompromiss einzugehen, indem sie nach Athen ziehen und sich dort Arbeit suchen würde. Dann konnte Theo seinen Sohn regelmäßig sehen.
„Drakon geht es immer noch nicht gut.“ Unbemerkt war Theo ins Zimmer gekommen. Seine Worte unterbrachen Kerrys Gedanken.
„Der Arme. Hoffentlich wird es bald besser.“
„Morgen kommt der Arzt. Aber heute Abend werden wir allein essen. Warum gehst du nicht schon mal unter die Dusche? Ich muss noch ein paar Telefonate führen.“
„Okay.“ Kerry nahm frische Wäsche aus dem Koffer und ging ins Bad. Die Situation schien seltsam vertraut. Auch früher war es immer so gewesen – sie hatte zuerst geduscht, während Theo noch telefonierte. Versonnen lächelte sie vor sich hin. Sie war gerade fertig und wollte das Bad verlassen, als Theo heftig an die Tür klopfte.
„Kerry! Bist du fertig?“
„Ja, ich komme schon.“ Sie öffnete die Tür. „Was ist?“, fragte sie erschreckt, als sie seinen Gesichtsausdruck sah.
„Deine Schwester Bridget hat angerufen. Ich bin an dein Handy gegangen, weil es ununterbrochen geklingelt hat.“
„Ist etwas passiert?“ Eine eisige Hand schien nach ihrem Herzen zu greifen . Bitte, lieber Gott, bitte mach, dass Lucas nichts passiert ist.
„Lucas ist gefallen“, antwortete Theo. „Er ist die Treppe hinuntergefallen. Deine Schwester klang ziemlich aufgeregt. Ich glaube, es ist besser, wenn du gleich zurückrufst.“
„Oh nein.“ Alle Kraft schien Kerry zu verlassen. Sie sank gegen den Türrahmen und schaute Theo aus weit aufgerissenen Augen an. Mein Baby, mein armes Baby. Ich hätte ihn nie allein lassen sollen. Das ist alles meine Schuld … wie konnte ich nur …
Verwundert sah Theo sie an. Nie hätte er gedacht, dass die Nachricht vom Unfall ihres Neffen Kerry so mitnehmen würde. Sie war weiß wie die Wand und zitterte wie Espenlaub. Hätte ich es ihr nur schonender beigebracht, dachte er.
„Ich glaube, es hört sich schlimmer an, als es ist“, versuchte er sie zu beruhigen. Er fasste Kerry bei den Schultern und schüttelte sie leicht, damit sie ihn ansah. „Sie sind mit ihm ins Krankenhaus gefahren, aber es scheint glimpflich abgegangen zu sein.“
„Er ist doch noch so klein. Er ist erst ein halbes Jahr alt“, murmelte Kerry mit tränenerstickter Stimme. Angesichts ihrer Verzweiflung machte Theo sich ernsthaft Sorgen um sie. Kerry schien gar nicht gehört zu haben, dass es nicht so schlimm war. Er musste sie unbedingt irgendwie beruhigen.
„Ich habe den Hubschrauber schon bestellt, und in Athen wartet mein Flugzeug auf uns. Wir fliegen sofort nach London.“
„Das würdest du tun … du bringst mich nach London?“ Allmählich schien Kerry sich von dem Schock zu erholen.
„Aber natürlich. Ich werde dich auch begleiten.“ Fürsorglich führte Theo sie zu einem Stuhl. Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn Kerry noch etwas gegessen hätte. Er wusste, wenn sie auf nüchternen Magen flog, war es mit ihrer Reisekrankheit immer am schlimmsten. Aber wie er sie kannte, würde sie jetzt doch keinen Bissen hinunterbringen.
Schnell packte er seine und Kerrys Habseligkeiten zusammen – dann brachen sie auch schon auf.
Ausdruckslos starrte Kerry in die Nacht. Ich gehöre an die Sei te meines Sohns, nicht auf irgendeine griechische Insel. Ich wünschte, ich könnte
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