Julia Extra Band 0313
Mitgefühl wurde ihr die Kehle eng.
Lyssa schluckte trocken. „Sie mussten also etwas finden, mit dem Sie sich auch allein beschäftigen konnten“, vermutete sie.
Überrascht sah er sie an. Anscheinend hatte er nicht so viel Verständnis von ihr erwartet. Schließlich nickte er.
„Sie haben recht, ich habe mich stundenlang in Geschichtsbüchern förmlich vergraben“, bestätigte er.
„Jedenfalls danke für den Vorschlag, nach Paestum zu fahren, Ricardo. Dieser Ort ist wirklich einen Besuch wert.“
„Gern geschehen.“ Nun lächelte er wieder. „Mir liegt viel daran, dass Sie glücklich und zufrieden sind. Und es ist so leicht, Ihnen eine Freude zu machen.“
Es machte ihr auch Freude, dass er schützend die Hand auf ihren Rücken legte, als sie an einer Gruppe Touristen vorbeigingen. Vielleicht sollte sie etwas anspruchsvoller werden – oder sich zumindest so geben –, damit Ricardo sie nicht für schrecklich naiv hielt!
Sie eilte zur Beifahrerseite und schaute ihn über das Auto hinweg an. „Ich hoffe, Ihre weiteren Vorschläge bleiben auf demselben hohen Niveau wie bisher“, meinte sie bemüht kühl.
„Das habe ich jedenfalls vor“, erwiderte er und stieg ein.
Wieder auf der Straße, erkundigte er sich nach ihren Brüdern. Sie erklärte ihm, dass beide älter waren als sie.
„Haben sie sich um Sie gekümmert, als Sie noch jünger waren, Miss Belperio?“
„Und wie!“ Lyssa seufzte theatralisch. „Falls Sie unter Kümmern verstehen, dass die beiden jeden Jungen vertrieben haben, der sich mir auch nur auf hundert Meter näherte.“
Ricardo lachte. „Dazu sind Brüder da.“
Verständnislos sah Lyssa ihn an. „Ach ja? Mich hat das wahnsinnig geärgert. Auch wenn ich nur mit Freundinnen unterwegs war, sind Dominic und Tony mit Sicherheit irgendwann aufgetaucht, um mich im Auge zu behalten. Machen Sie so was etwa auch mit Ihren Schwestern?“
„Nein … aber nur, weil die in einem Internat in der Schweiz sind.“
„Wieso das – wenn ich fragen darf?“
„Es scheint mir die beste Lösung zu sein“, erklärte er. „Die beiden sind nicht leicht unter Kontrolle zu halten, und mein Onkel und meine Tante sollten nicht länger die Last der Verantwortung tragen müssen, fand ich.“
„Sehen Sie Ihre Schwestern überhaupt noch?“
„Ja, so oft wie möglich. Ich habe sie nicht im Stich gelassen, falls Sie das meinen.“
„Das wollte ich Ihnen wirklich nicht unterstellen“, versicherte Lyssa ihm rasch. „Übrigens habe ich später meine Brüder durchschaut. So uneigennützig war ihre Kontrolle nämlich nicht. Sie wollten gleichzeitig ein Auge auf meine Freundinnen werfen.“
„Ach so!“
„Mehr haben Sie nicht zusagen, Ricardo? Zum Beispiel, wie unfair es ist, dass meine Brüder mit Mädchen meines Alters ausgehen durften, aber ich nicht mit Jungen ihres Alters. Oder überhaupt mit Jungen, egal, wie alt!“
„Was haben denn Ihre Eltern dazu gesagt?“, erkundigte er sich.
„Die waren mir keine Hilfe, denn sie sind sehr streng. Sie wollten nicht einmal, dass ich mich mit australischen Mädchen traf, weil sie meinten, die hätten einen schlechten Einfluss auf mich.“ Sie seufzte tief. „Am liebsten hätten sie mich bis zu meiner Heirat in einen Turm gesperrt wie eine Märchenprinzessin, nur wie ich dann den Mann fürs Leben hätte finden sollen, ist mir ein Rätsel. Können Sie mir das sagen?“
Amüsiert schüttelte er den Kopf.
„Wirklich, als Tochter von Italienern in Australien aufzuwachsen war manchmal gar nicht einfach“, klagte Lyssa.
„Inwiefern?“
„Verstehen Sie mich nicht falsch! Ich hatte eine wunderbare
Kindheit“, versicherte sie ihm rasch. „Aber ich hatte das Problem, zwischen zwei unterschiedlichen Lebensweisen sozusagen gefangen zu sein. Meine Eltern hielten an den alten Maßstäben fest, mit denen sie aufgewachsen waren. Und alles, was ich so gern tun wollte, war anders als das, was sie in jungen Jahren getan hatten. Also, ich meine jetzt Kleidung, Tanzen, Musik und Ähnliches. Das war ihnen zu ‚australisch‘, wenn man so will.“
„Sie durften also nicht so sein wie Ihre Freundinnen“, vermutete er.
„Das trifft es genau! Und da meine Großmutter bei uns lebte, war alles noch peinlicher“, gestand Lyssa.
„Wieso das?“
„Zum Beispiel brachte sie mir mittags Essen in die Schule, damit ich bloß keine ungesunden Burger oder Sandwichs in der Kantine aß wie alle anderen. Und sie blieb immer so lange, bis ich alles aufgegessen
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