Julia Extra Band 0313
das, was sein Verstand diktierte.
„Wie viele Jahre haben Sie für den Club gespielt?“, erkundigte sie sich sachlich.
„Zehn.“
Also hatte er mit achtzehn Jahren angefangen, rechnete sie rasch aus. Und plötzlich wurde ihr klar, was der Club Ricardo bedeutete.
„Im Verein haben Sie so etwas wie ein Zuhause und eine zweite Familie gefunden, stimmt’s?“, fragte sie leise. „Eine Gruppe, zu der Sie gehören.“
Er sah so aus, als wollte er das leugnen, dann zögerte er und schaute ihr tief in die Augen. Schließlich nickte er.
„Ich will wirklich nichts gegen meinen Onkel und meine Tante sagen. Sie sind wunderbare, großzügige Menschen, denen ich von Herzen dankbar bin, aber …“ Er zuckte die Schultern.
Ja, sie verstand ihn. Im Club war er unter Gleichgesinnten. Dort empfand er ein Zugehörigkeitsgefühl, das ihm im Kreis seinerVerwandten gefehlt hatte.
Und nun sollte er sich damit abfinden, diesen Lebensabschnitt zu beenden.
Das war bestimmt nicht leicht.
Da ihr noch immer nichts Tröstendes zu sagen einfiel, legte sie nur die Hand auf seine.
Ricardo saß einen Moment lang still da, dann sah er Lyssa dankbar lächelnd an und strich ihr sanft über den Handrücken.
Zwei Tage später waren sie unterwegs nach Ravello.
Lyssa saß verkrampft auf dem Beifahrersitz und hatte die Hände über die geschlossenen Augen gepresst, um nur nicht die tiefen Schluchten sehen zu müssen, an denen entlang sich die Straße durchsValle del Dragone wand.
Ricardo hatte versprochen, ihr zu sagen, wann sie die Augen wieder aufmachen konnte. Und er hatte ihr versichert, dass die Aussicht von Ravello über die Küste eine halbe Stunde Angst wert sei.
Dass Lyssa seinen Vorschlag akzeptiert und damit bewiesen hatte, wie sehr sie ihm vertraute, machte ihn direkt stolz. Noch nie war er so sehr in seiner Rolle als Beschützer aufgegangen. Nicht einmal in Bezug auf seine Schwestern, und das wollte etwas heißen!
Ob das an dieser Aura von Unschuld lag, die sie umgab? Wobei Unschuld nicht ganz das richtige Wort war. Einfachheit?
Nein, das war noch weniger passend.
Geradlinigkeit! Ja, genau.
Lyssa war durch und durch ehrlich, sie verstellte sich nicht, benutzte keine Tricks – sie war ganz sie selbst!
Deshalb war sie auch die erste und einzige Person, der er sein Dilemma gestanden hatte. Dabei kannte er sie doch erst wenige Tage.
Es kam ihm viel länger vor. Vielleicht, weil sie von morgens bis abends zusammen waren? Und wenn er nichts mit ihr unternahm, dachte er an sie und fragte sich zum Beispiel, was sie gern noch alles sehen würde.
Ob sie glücklich war.
Er hatte erwartet, sich sozusagen zähneknirschend und nur seinem Onkel zuliebe mit einer anspruchsvollen, dabei langweiligen und womöglich hochnäsigen Frau abgeben zu müssen – und nun genoss er jeden Augenblick, den er mit Lyssa verbrachte.
„Sie können die Augen jetzt aufmachen“, informierte er sie, als sie in den Ort mit den schmalen, mittelalterlichen Straßen fuhren.
Sie ließ die Hände in den Schoß sinken und lächelte. „Endlich überstanden! Ich hoffe nur, Ravello ist diese Tortur wert.“
„Natürlich. Ich habe es Ihnen doch versprochen! Und waren Sie bisher jemals enttäuscht von meinenVorschlägen?“
Sie schüttelte nur den Kopf. Ihr langes hellbraunes Haar glänzte in der Nachmittagssonne.
Die meisten Frauen würden es entweder blond oder dunkel färben, dachte Ricardo, der sich da durchaus auskannte. Lyssa hingegen schien mit ihrer Haarfarbe zufrieden zu sein. Sie stand ihr ja auch hervorragend, fand er.
Nachdem er das Auto geparkt hatte, schlenderten sie durch die Straßen des malerischen Orts. Hier gab es weniger Geschäfte, dafür umso mehr Kirchen und palazzi .
Vor allem die Kathedrale mit der uralten Bronzetür und der Kanzel, die auf sechs steinernen Löwen ruhte, beeindruckten Lyssa. Auch dieVilla Rufolo, ein Bau im sarazenischen Stil, begeisterte sie.
Ricardo erklärte ihr, dass der berühmte Komponist Richard Wagner hier eine Zeit lang gewohnt habe und dass man deshalb im Sommer im Garten der Villa Konzerte mit Wagners Musik veranstaltete.
„Schade, dass es dafür noch zu früh ist“, meinte Lyssa.
„Mögen Sie Musik von Wagner?“, fragte Ricardo überrascht.
„Ehrlich gesagt kenne ich die gar nicht“, gestand sie. „Aber ich stelle es mir so schön vor, in diesem Rahmen Konzerte zu besuchen.“
Er nickte und nahm sie bei der Hand, als sie weiter durch den Garten mit der üppigen Vegetation spazierten,
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