Julia Extra Band 0318
hatte das deutliche Gefühl, dass ihm ein wenig liebevolle Fürsorge gut tun würde.
So gesehen war es ein Glücksfall, dass Marianne im Laufe ihres jungen Lebens schon viel zu viel Bekanntschaft mit menschlichem Elend gemacht hatte.
4. KAPITEL
Trotz der neuen Umgebung schlief Marianne in der ersten Nacht wie ein Murmeltier. Kaum war sie am nächsten Morgen aufgewacht, stieg sie aus dem Bett und lief barfuß an eins der Fenster. Es war noch immer dunkel, aber zartrosa und graue Streifen durchzogen bereits den Himmel. Der Schnee schimmerte geheimnisvoll, und die Umrisse der Hügel und Wälder waren jetzt deutlich sichtbar.
Wie schon am vergangenen Abend ließ die Schönheit der Landschaft Mariannes Herz höher schlagen. Sie schlang die Arme um sich und atmete tief durch, als eine Mischung aus Nervosität und Vorfreude ihren Körper durchrann. Was immer der vor ihr liegende Tag auch bringen mochte – sie war entschlossen, ihn voller Elan und Optimismus zu beginnen.
Die makellose Schneedecke, die die Hügel aussehen ließ, als wären sie mit Zuckerguss überzogen, und die hohen Bäume, deren kahles Geäst zum Himmel aufragte, regten ihre Fantasie an. Unversehens sah sie sich als schöne Prinzessin, die in einer Burg gefangen gehalten wurde und das märchenhafte Reich ihres finsteren Entführers bestaunte …
Wo bist du wieder mit deinen Gedanken, Marianne Lockwood? Wenn du weniger träumen und dich mehr auf den Unterricht konzentrieren würdest, könntest du möglicherweise in einigen Jahren deinen Beitrag leisten, um die Arbeitslosenstatistik zu senken.
Marianne straffte unwillkürlich die Schultern, als aus dem Nebel der Zeit die schnarrende Stimme ihres Grundschullehrers an ihr Ohr drang. Heute hätte sie ihm entgegengehalten, dass es manchmal gute Gründe für die Unaufmerksamkeit eines Kindes gab. Zum Beispiel ständige Spannungen in der Familie oder ein Elternteil, das sich langsam, aber sicher um den Verstand trank. Für ein Kind in dieser Lage waren Tagträume überlebenswichtig. Damals jedoch war sie natürlich nicht in der Lage gewesen, das zu erkennen, geschweige denn zu formulieren. Stattdessen hatte sie schuldbewusst den Kopf gesenkt und sich nur noch tiefer in ihre eigene kleine Welt zurückgezogen.
Widerstrebend riss Marianne sich vom Fenster los und ging ins Bad. Es war kurz nach sechs. Ihr neuer Boss hatte gesagt, dass Ricardo schon sehr früh auf den Beinen sein würde. Besser sie beeilte sich, um sich so schnell wie möglich über ihre neue Rolle als Haushälterin ins Bild setzen zu lassen.
„Guten Morgen“, begrüßte Ricardo sie munter, als sie nach längerem Herumirren in den schier endlosen Korridoren voller unbekannter Nischen und Türen endlich die Küche gefunden hatte. „Haben Sie Hunger?“
Angetan mit einer blauweiß gestreiften Schürze stand er vor dem Herd und briet Eier und Schinken, als wäre er für diese Aufgabe geboren. Marianne, die gestern vor lauter Aufregung kaum einen Bissen heruntergebracht hatte, knurrte inzwischen der Magen. Und die appetitlichen Düfte, die die Küche erfüllten, ließen ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen.
„Guten Morgen“, erwiderte sie lächelnd seinen Gruß. „Und ja, ich könnte jetzt wirklich etwas zu essen vertragen.“ Ihr Blick glitt über den großen, dunklen Holztisch, der mit Vollkornbrot, Toast, Butter, verschiedenen Marmeladesorten, frischen Früchten, Müsli und einer großen Kanne Orangensaft gedeckt war. „Wird Mr. de Souza mit uns zusammen frühstücken?“, erkundigte sie sich angesichts der reichhaltigen Auswahl.
Ricardo drehte sich kurz zu ihr um. „Nein, er schläft noch und wird später essen“, klärte er Marianne auf. „Nehmen Sie ruhig schon Platz und fangen Sie an. Die Eier sind gleich fertig.“
Das ließ sie sich nicht zwei Mal sagen. Sie setzte sich an den Tisch, goss sich ein Glas Saft ein und bestrich eine Scheibe Toast mit Butter. „Wann steht Mr. de Souza denn normalerweise auf?“
Ricardo wendete geschickt den Schinken in der Pfanne. „Das hängt ganz davon ab“, antwortete er vage. Er hob die Pfanne vom Herd, ließ Eier und Schinken auf eine vorgewärmte Platte gleiten und stellte sie vor Marianne hin. „Voilà“, sagte er. „Ein traditionelles englisches Frühstück extra zu Ihrer Begrüßung. Ich mache uns schnell einen Kaffee, und dann sprechen wir über Ihren neuen Job.“
„Tausend Dank, Ricardo, das sieht absolut köstlich aus!“ Heißhungrig machte Marianne sich über ihr Essen
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