Julia Extra Band 0318
her. Dabei sah sie dem großen jungen Mann zu, der sich in der Küche bewegte, als wäre sie schon immer seine angestammte Domäne gewesen. Offensichtlich hatte er nichts gegen Hausarbeit und schien sich durch diese Tätigkeit auch keineswegs in seiner männlichen Ehre gekränkt zu fühlen. Es war nicht zu übersehen, dass er sich in seiner Haut vollkommen wohl fühlte. Marianne spürte, dass er seinem Arbeitgeber mit Haut und Haar ergeben war.
Ihre Neugier bezüglich Eduardo de Souza wuchs. Was für ein Mensch war er wirklich, und warum gab es zum Beispiel keine Mrs. de Souza? Aber vielleicht gab es ja eine, und sie hatte sich entschieden, in Brasilien zu bleiben. In den kurzen Gesprächen, die Marianne mit ihm geführt hatte, war es immer nur um ihre Situation gegangen, während er selbst so gut wie nichts über sich preisgegeben hatte.
Während sie alle möglichen Spekulationen über seine Vergangenheit anstellte, drückte Ricardo das Sieb der Cafetière herunter. Er schenkte den dampfenden Kaffee in zwei Becher, stellte Milch und Zucker auf den Tisch und setzte sich Marianne gegenüber. „So, und nun können wir in Ruhe alles besprechen“, verkündete er.
Marianne rührte einen Löffel Zucker in ihren Kaffee. „Hatte Mr. de Souza schon vorher eine Haushälterin?“
„In Rio ja, aber nicht in diesem Haus.“ Nach einem kurzen Zögern fügte er hinzu: „Ich glaube, es ist gut für ihn, dass Sie jetzt hier sind, Marianne, und ich hoffe sehr, dass Sie bleiben.“
Die Zweifel in seiner Stimme ließen Marianne aufhorchen. „Warum sollte ich denn nicht bleiben wollen?“
„Aus keinem besonderen Grund“, versicherte er ihr eilig. „Ich dachte nur, es könnte Ihnen auf Dauer vielleicht doch zu einsam werden, das ist alles.“
Obwohl sie keineswegs überzeugt war, dass er nur das gemeint hatte, ließ sie es dabei bewenden. „Arbeitet Mr. de Souza von zu Hause aus?“, erkundigte sie sich stattdessen.
„Ja. Das heißt, augenblicklich macht er beruflich eine Pause, aber es gibt verschiedene Wohltätigkeitsprojekte, für die er sich sehr engagiert.“
Anscheinend betrachtete Eduardo de Souza es als seine Mission, den vom Schicksal weniger Begünstigten zu helfen. Bei dem Gedanken überfielen Marianne heftige Gewissensbisse, und sie beschloss erneut, ihn so rasch wie möglich über ihre wahren Lebensverhältnisse aufzuklären. Oder besser gesagt, über die Verhältnisse, in denen sie gelebt hatte, bevor sie zu ihm gekommen war.
Sie bemerkte, dass ein wachsamer Ausdruck in Ricardos Augen getreten war, als befürchtete er, sie könnte ihm weitere persönliche Fragen über seinen Chef stellen. Um ihn diesbezüglich zu beruhigen, sagte sie resolut: „Dann geben Sie mir jetzt am besten einen Überblick über meine Aufgaben, und danach nehme ich den Abwasch in Angriff.“
Eine Stunde später saugte Marianne den endlos langen Läufer in der Galerie im zweiten Stock. Um sich die eintönige Tätigkeit zu versüßen, betrachtete sie dabei die beeindruckenden Ölgemälde, die die hohen Wände schmückten. Eines von ihnen erregte ihre Aufmerksamkeit besonders. Kurzerhand stellte sie den Staubsauger aus, um es sich näher anzusehen.
Es zeigte das Anwesen und stammte – wie die kleine Plakette unter dem vergoldeten Rahmen verriet – vom Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Genau wie heute waren die zinnenbewehrten Dächer und Türme und die Landschaft ringsum mit einer glitzernden Schneedecke überzogen.
Wer mochte früher hier gelebt haben, fragte Marianne sich unwillkürlich. Waren die ursprünglichen Besitzer in finanzielle Not geraten und gezwungen gewesen, ihren Besitz zu verkaufen? Erst in diesem Augenblick wurde ihr bewusst, dass ihr neuer Arbeitgeber schwerreich sein musste, um ein solches Anwesen kaufen und unterhalten zu können. Diese Erkenntnis führte sie automatisch zu der Frage, woher dieses Vermögen stammte. Doch bevor sie irgendwelche Theorien dazu aufstellen konnte, öffnete sich eine Tür am Ende des Korridors und Eduardo de Souza trat heraus.
Marianne, die sofort seine auffallende Blässe registrierte, begrüßte ihn mit einem freundlichen „Guten Morgen“. Das quittierte er mit einem so eisigen Blick, als hätte sie ihn gerade schwer beleidigt.
„Wenn Sie das nächste Mal Staub saugen“, instruierte er sie ungnädig, „fangen Sie gefälligst unten an und kommen nicht eher hoch, bis ich aufgestanden bin und gefrühstückt habe.“
Im ersten Augenblick war sie wie erstarrt, dann wurde
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