Julia Extra Band 0319
sich über irgendwelche nebensächlichen Dinge mit ihm unterhalten.
Dann war ihr beim Anblick der schmalen, kurvigen Landstraße plötzlich ein Haus eingefallen, das sie als Kind mal besucht hatte. Ihre Tante arbeitete damals als Haushälterin, ganz ähnlich wie Mrs. Guest jetzt, und in einem Sommer, als die Besitzer des Hauses auf Reisen waren, hatte sie Chloe, ihre Schwester und ihre Mutter eingeladen, sie zu besuchen.
Chloe war völlig fasziniert von dem Haus gewesen. Sie hatte noch nie zuvor Wände aus Glas gewesen – außer in den Läden in der High Street – und fand sie zauberhaft. Ihre Schwester litt unter Höhenangst und mied die Fenster im ersten Stock. Aber Chloe hatte sich mit ausgestreckten Armen gegen das Glas gelehnt und sich gefühlt, als würde sie über die Felder fliegen.
Ihre Mutter und ihre Tante hatten es ihr verboten, aus Angst vor Fingerabdrücken, und Chloe hatte gehört, wie sie sich darüber aufregten, wie viel Arbeit es bedeutete, so viel Glas zu putzen. Chloe war das gleichgültig gewesen – sie wollte weiter über die Felder fliegen und hatte sich gewünscht, eines Tages in einem solchen Haus zu leben.
Es war unglaublich, dass Lorenzo sich daran erinnern konnte. Und dass er sich die Mühe gemacht hatte, ein solches Haus als Hochzeitsgeschenk für sie zu finden.
Während ihrer Beziehung war er von Anfang an aufmerksam und fürsorglich gewesen, und die vielen Gesten hatten sie glauben lassen, dass er sie liebte, obwohl er es nie aussprach.
Jetzt wusste sie nicht, was sie denken sollte. Wie konnte es sein, dass Lorenzo auf kleine Dinge achtete, die sie glücklich machten – und ihr gleichzeitig immer wieder versicherte, dass er sie nicht liebte? Warum tat er so, als begehe sie ein abscheuliches Verbrechen, nur weil sie etwas für ihn empfand?
Chloe strich sich das Haar aus dem Gesicht und seufzte. Ein blass orangener Schimmer zeigte sich am östlichen Horizont. Die Sonne würde bald aufgehen, und das riesige Fenster bot einen fantastischen Ausblick.
Doch plötzlich merkte sie, dass keine Vögel sangen. Der Dämmerungschor hätte längst zu hören sein müssen, aber es war alles still. Das dreifach verstärkte Glas schluckte offenbar jedes Geräusch der Welt draußen genauso effektiv wie ein schalldichter Raum.
Der Gedanke bestürzte Chloe. In diesem Moment kam es ihr vor wie eine schreckliche Spiegelung ihrer Ehe mit Lorenzo. Sie hatte die perfekte Aussicht – aber sie lebte ihr Leben nicht wirklich aus. All die Vögel da draußen begrüßten fröhlich die Morgendämmerung – aber sie konnte nicht einen einzigen Ton davon hören.
Ohne weiter nachzudenken durchquerte sie das Zimmer, hob im Vorbeigehen ihren Morgenmantel auf und lief hinunter, um in den Garten zu gehen.
Aber sie konnte das Haus nicht verlassen. Die Küchentür war abgeschlossen, und ihr fiel nicht mehr ein, wo die Schlüssel lagen.
Sie lief ins Wohnzimmer und versuchte, die Terrassentüren zu öffnen, doch als sie davorstand, erinnerte sie sich nicht mehr daran, wie das ging. Sie wusste, dass sie automatisch bewegt wurden, und es musste irgendwo eine Fernbedienung dafür geben, aber sie konnte keine finden.
Tränen liefen Chloe über das Gesicht, während sie hilflos durch die Glastüren starrte.
Lorenzo lag wach im Bett und wusste, dass Chloe nicht neben ihm lag. Sie schlief schlecht und stand oft vor Sonnenaufgang auf, um den Ausblick über die Landschaft zu genießen, deshalb war das nichts Ungewöhnliches. Aber er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er sie zuletzt im Zimmer herumgehen gehört hatte.
Plötzlich wurde ihm klar, dass es viel zu still war. Er konnte durch die geöffnete Tür hören, wie sich Emma im angrenzenden Zimmer im Schlaf bewegte. Doch Chloe hörte er nicht.
Abrupt setzte er sich auf und sah sofort, dass sie nicht mehr im Raum war.
Mit wild klopfendem Herzen sprang er aus dem Bett. Sie ist weggelaufen, dachte er panisch – sie hat mich verlassen.
Dann zwang er sich, ruhig zu bleiben. Chloe würde Emma nicht im Stich lassen, das wusste er. Wahrscheinlich war sie nur unten in der Küche und holte sich etwas zu trinken. So etwas tat sie öfter.
Doch irgendwie spürte er, dass heute Morgen etwas anders war. Chloe war gestern so aufgewühlt gewesen. Was, wenn ihr klar geworden war, dass es so nicht weitergehen konnte? Was, wenn sie plante, ihn zu verlassen?
Der Gedanke war so furchtbar, dass er Lorenzo die Luft nahm. Er zog sich eine Hose über und rannte sofort aus dem Zimmer
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