Julia Extra Band 0319
oberstes Gebot, andere nicht zu enttäuschen. Sie musste etwas unternehmen, und zwar schnell.
„Es war nicht deine Schuld. Ich wollte es genauso wie du.“
Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. „Sag das nicht“, widersprach er ihr heftig. „Du bist viel jünger als ich, und unerfahren. Ich nehme alle Schuld auf mich.“
„Wofür? Es war nur ein Kuss … vielleicht mit unerwarteten Folgen, aber trotzdem nur ein Kuss.“
„Ja. Nur ein Kuss. Vergiss das nicht. Du hast dir nichts vorzuwerfen.“
Sie bereute nichts, aber sie wusste, dass er das sicher nicht hören wollte. Sie hatte ihn noch nie so aufgewühlt gesehen.
Langsam stand sie auf und zupfte am Saum ihres T-Shirts. „Okay. Keine befleckte Ehre. Für keinen von uns.“
Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, Spiros zu erzählen, dass sie ihre Verlobung mit Dimitri lösen wollte. Erstmal musste sie ihn wieder aufrichten. Sie liebte ihn zu sehr, um zuzulassen, dass er sich solche Vorwürfe machte.
Dimitri und Spiros hatten es nicht leicht gehabt, obwohl sie es nie zugegeben hätten. Ihre Mutter hatte ihren Vater ständig betrogen, aber der war ihr so verfallen gewesen, dass er ihr immer wieder verzieh. Die Kinder hatten das ewige Hin und Her hilflos mitansehen müssen, waren immer wieder von der Mutter, die sie liebten, verlassen worden und bei einem verzweifelten Vater zurückgeblieben, der sich in seinem Kummer von ihnen abwandte. Es folgten kurze Phasen, in denen die Familie glücklich wieder vereint schien, doch dieses trügerische Glück währte nie lange. Schon bald verlor die Mutter ihr Herz aufs Neue an irgendeinen Schwerenöter, der des Weges kam, und das ganze Elend begann wieder von vorn.
Phoebe war noch ein Baby gewesen, doch sie kannte die Geschichten.
Das Muster war immer dasselbe gewesen, bis beide Eltern bei einem Unfall auf tragische Weise ums Leben kamen. Timothy war seiner Frau und ihrem aktuellen Liebhaber in einen Skiort nachgereist, um sie anzuflehen, wieder nach Hause zu kommen. Auf der Rückfahrt war ihr Wagen auf einer vereisten Serpentinenstraße ins Schleudern geraten und von der Fahrbahn abgekommen. Phoebe konnte nur erahnen, welche Spuren diese Tragödie bei den Söhnen hinterlassen haben mochte.
Dimitri wirkte nach außen vollkommen kalt und gefühllos. Spiros war herzlicher, besaß dafür aber ein übertriebenes Ehrgefühl und war offensichtlich von der Angst getrieben, irgendwann wie seine Mutter oder sein Vater zu enden. Phoebe kannte ihn gut genug, um ihn zu durchschauen.
„Denk nicht mehr an den Kuss“, meinte Phoebe heiter.
„Na gut. Ja. Du hast recht.“
Sie lächelte ihm aufmunternd zu. „Warte im Wohnzimmer, dann ziehe ich mich um, damit wir essen gehen können.“
„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.“
„Willst du etwa, dass ich das Abendessen ausfallen lasse?“ Das war zwar unverfroren, aber es ging nicht anders. „Oder sollen wir etwas bestellen?“
Er schüttelte heftig den Kopf. „Nein. Ich …“ Er sog scharf die Luft ein und atmete wieder aus. „Lass uns essen gehen. Ich lade dich ein.“
„Danke.“
Sie wollte nicht, dass er sich Vorwürfe machte.
Den Rest des Abends hielt Spiros Abstand, doch als er sie wieder zu Hause absetzte, war das schlechte Gewissen aus seinem Blick verschwunden, und er machte schon wieder Scherze über ihre Lerngewohnheiten. Nur gab er ihr keinen Abschiedskuss auf die Wange.
Doch sie beschwerte sich nicht. Die Erinnerung an den richtigen Kuss tröstete sie darüber hinweg. Im Grunde war sie sogar ganz froh darüber, weil sie nicht sicher war, ob sie einen weiteren Kuss überhaupt ertragen könnte – selbst wenn es sich nur um einen unschuldigen Abschiedskuss handelte.
Der Kuss vorhin hatte sie vollkommen aus dem Gleichgewicht geworfen. Ihre Gefühle und ihre Gedanken spielten verrückt. Nach all den Jahren unerwiderter Liebe war sie ganz sicher gewesen, dass Spiros nichts für sie empfand außer Freundschaft. Jetzt wusste sie, dass da mehr war. Und es war nicht leicht, das zu begreifen.
Durfte sie es wagen zu hoffen?
Nur langsam kehrte Phoebe in die Gegenwart zurück, umso fester entschlossen, ihrem Vater die geplante Hochzeit mit Dimitri auszureden. Oder sollte sie damit warten, bis sie alles über ihren Job in der Firma geklärt war?
„Du kannst jetzt hineingehen“, unterbrach die Sekretärin in diesem Moment ihre Gedanken.
Sie sprang auf und musste sich zwingen, langsam zu gehen, als sie den Empfangsbereich durchquerte, und
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