Julia Extra Band 0325
Maßstäben“, sagte sie trocken.
Nein, das tat es nicht. Der Laden war eine bessere Absteige. Doch das sprach er nicht aus, obwohl ihn die Vorstellung ungemein störte, dass sie und das Baby – jede junge alleinstehende Frau mit einem hilflosen Kind – ausgerechnet dort wohnten.
„Britney wird ihn gleich morgen früh herbringen.“
„Danke. Wollen Sie ihn sich nicht genauer ansehen?“, fragte Morgan, als er einen Schritt zurückwich.
Doch, das wollte er. Deshalb war er in dieses Zimmer gekommen, obwohl sein Verstand ihm davon abgeraten hatte. Dennoch zögerte er und hatte mehr Angst vor dem, was er nicht sehen würde.
Das Baby lag auf dem Rücken. Bryan erinnerte sich daran, was die Ärzte ihm nach Cadens Geburt erzählt hatten – dass die Rückenlage den plötzlichen Kindstod verhindern konnte. Als Caden gelernt hatte, sich auf den Bauch zu drehen, war Bryan nachts dauernd aufgestanden, um nach ihm zu sehen. Im Halbdunkel des Kinderzimmers hatte er sich davon überzeugt, dass der winzige Rücken sich hob und senkte.
„Er hat schon Haare unter der Mütze“, sagte Morgan.
Bryan erspähte ein paar dunkelbraune Strähnen. Die Augen, blau wie bei allen Neugeborenen, waren weit geöffnet, und Bryan kam es vor, als würde das Baby ihn ansehen. Schließlich hob sich ein kleiner Mundwinkel zu so etwas wie einem Lächeln.
Dillon.
Bryan fühlte sich, als hätte ihn ein Vorschlaghammer am Solarplexus getroffen. Obwohl das Gesicht des Babys viel zu klein war, erkannte er darin die Züge seines Bruders. Nicht jeden einzeln, aber der Gesamteindruck war irgendwie … vertraut. Bryan wurde weh ums Herz. Schon einmal hatte er nur gesehen, was er sehen wollte. Umso größer war die Enttäuschung gewesen, als er herausgefunden hatte, wie sehr er getäuscht worden war. „Wie wollen Sie ihn nennen?“, fragte er, weil ihm nichts Besseres einfiel.
„Brice Dillon Stevens.“
Er nickte. Dass das Kind auch den Namen seines Bruders tragen sollte, überraschte ihn nicht. Aber er fragte sich, warum Morgan ihm ihren Nachnamen geben wollte. Weil sie unverheiratet war? Oder weil sie wusste, dass das Baby kein Caliborn war? Das hatte Bryans Exfrau nicht daran gehindert, ihn zu belügen und bei ihm zu bleiben, bis sie den Ölbaron davon überzeugt hatte, dass er der biologische Vater war.
„Ich nehme an, Sie haben meinen Bruder als Vater in die Geburtsurkunde eintragen lassen?“, fragte er.
„Ja, das habe ich. Ist das ein Problem für Sie?“ In Morgans Stimme schwang eine Schärfe mit, die nicht zu ihrer zerbrechlichen Erscheinung passte. In dem grässlichen Krankenhaushemd mit den Verschlüssen an den Schultern sah sie noch jünger und verletzlicher aus als zuvor. Aber die Frage und ihr herausfordernder Blick ließen erkennen, wie viel innere Stärke sie besaß.
„Ich gehe jetzt. Sie brauchen Ruhe.“ Bryan nahm eine Visitenkarte aus der Brieftasche und gab sie ihr. „Falls Sie etwas benötigen, meine Privatnummer steht auf der Rückseite.“
„Danke, aber ich werde Sie nicht anrufen. Ich …“ Sie warf einen Blick auf das Baby, und ihre Miene entspannte sich. „ Wir kommen allein zurecht.“
Wir kommen allein zurecht.
Wirklich?
Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, als sie ihre Sachen gepackt hatte und ohne einen konkreten Plan für die Zukunft nach Chicago gekommen war? Das entsprach doch sonst nicht ihrer Art. Natürlich war nichts an dieser Situation für sie normal. Woher sollte sie einen Job nehmen? Und ein Dach über dem Kopf?
Sie hatte nicht darauf spekuliert, dass Bryan – Dillon – ihr helfen würde, obwohl ihr Kind einen juristischen und moralischen Anspruch auf Unterhalt hatte. Aber sie hatte gehofft, dass er einige der Kosten übernehmen würde. Die Krankenhausrechnung, zum Beispiel. Danach hätte er selbst entscheiden sollen, welche Rolle er im Leben seines Sohnes spielen wollte. Morgan war kein Sozialfall. Ihre Eltern hatten ihr einen kleinen Geldbetrag hinterlassen. Leider war Chicago sogar noch teurer, als sie einkalkuliert hatte, und die Summe nahm rapide ab.
Und jetzt hatte sie erfahren, dass Dillon ihr nicht nur seinen richtigen Namen verschwiegen hatte, sondern auch noch – wie ihre Eltern – bei einem Unfall getötet worden war. Liebevoll warf sie einen Blick auf den Sohn, den sie beide in Aruba gezeugt hatte.
Sie wollte um den Mann trauern, den sie als Bryan gekannt hatte. Und das tat sie auch. So, wie man um jeden Menschen trauert, der viel zu früh aus dem Leben gerissen
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