Julia Extra Band 0330
steckte er fest.
Heute war kein guter Tag. Ein verlorener Schlüsselbund, eine Kiste, die nicht zuging, und eine Taube, die sich im Dachstuhl verfangen hatte. Ein bisschen viel für einen Vormittag. Wäre sie abergläubisch, hätte sie sich schon längst unter der Bettdecke versteckt. Aber ihr Bett war schon für einen anderen Benutzer frisch bezogen, und ihre Sachen waren in Reisetaschen und Koffern verstaut. Außer ihren persönlichen Dingen hatte sie alles in dem Cottage zurückgelassen, und bald würde es wieder vermietet. Im Fremdenverkehrsbüro hatten sie sich über die neue kinderfreundliche Unterkunft in dem malerischen Dorf Barkleigh gefreut.
Sie legte die Zungenspitze an die Oberlippe und nahm den Kampf mit dem Türschloss wieder auf. Endlich ließ der Schlüssel sich herausziehen.
Ein letztes Mal blickte Ellie durch das bleiverglaste Oberlicht der schweren Eichentür. Früher hatte der Flur freundlich und einladend ausgesehen, mit herumliegenden Schuhen und Jacken an den Garderobenhaken. Jetzt wirkte alles kahl und leblos.
Ein dicker Regentropfen fiel Ellie auf den Kopf. Unwillkürlich zuckte sie zusammen, nahm das letzte Gepäckstück auf und lief den Pfad hinunter zu ihrem Wagen.
Sie blickte zum Himmel. Eine riesige dunkle Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben und bewegte sich genau in ihre Richtung. Ein neuer Regentropfen traf sie im Nacken und lief zwischen ihren Schulterblättern hinab. Ellie beschleunigte ihre Schritte. Der Kofferraumdeckel ihres Wagens stand schon offen. Sie warf ihr Gepäck hinein, klappte den Deckel zu und lief zur Fahrertür.
Kaum saß sie hinter dem Lenkrad, prasselten die Regentropfen auf das Autodach. Aus der Lüftung drang der Geruch nach warmer, feuchter Erde.
Sie warf einen Blick auf ihre Handtasche, die neben ihr auf dem Beifahrersitz lag. Aus der offenen Lasche lugte ein alter, abgeschabter Teddybär mit einem Auge und zerzausten Ohren. Schnell blinzelte sie die aufsteigenden Tränen weg. Nicht jetzt, dachte sie. Sonst jederzeit, aber heute durfte sie auf keinen Fall weinen.
Der Regen prasselte jetzt so heftig auf den Wagen, dass sie sich durch das Geräusch und den dichten Vorhang völlig abgeschottet von der Welt vorkam.
Eine Weile starrte sie in die undurchdringliche graue Szenerie vor der Windschutzscheibe, dann drehte sie beherzt den Zündschlüssel um. Ein Zittern lief durch das alte Auto, dann stand es still.
Ellie versuchte, ruhig zu bleiben und streichelte das Armaturenbrett. Komm schon, altes Mädchen! Lass mich jetzt nicht im Stich .
Sie versuchte es noch einmal, und als der Motor stotternd in Gang kam, stieß sie erleichtert den Atem aus. Langsam rumpelte sie den Feldweg hinunter und zwang sich, nicht zum Haus zurückzublicken.
Mit fünfzig Meilen die Stunde fuhr sie über die Autobahn, mehr gab der Wagen nicht her, aber das war ihr gerade recht. Autofahren war heutzutage nicht gerade ihre Lieblingsbeschäftigung, und seit Langem war sie nicht mehr auf der Autobahn gefahren. Während sie langsam dahinzockelte, und die schweren Laster mit überhöhter Geschwindigkeit an ihr vorbeisausten, hing sie ihren Gedanken nach.
Als sie nach dem Unfall aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte sie noch ein Jahr lang bei ihren Eltern gewohnt. Als sie dann wieder in ihr Cottage gezogen war, hatten ihre Verwandten und Freunde einen kollektiven Seufzer der Erleichterung ausgestoßen. Ellie ging es wieder gut, und sie brauchten sich keine Sorgen mehr zu machen.
Doch Ellie ging es nicht gut. Zwar war ihr Haar wieder gewachsen und verdeckte die Narben auf ihrem Kopf, und wahrscheinlich redete und bewegte sie sich auch wieder wie früher. Aber sie würde nie wieder dieselbe sein.
Sinnierend betrachtete sie die Regentropfen, die über die Windschutzscheibe liefen. Wasser war etwas Gutes und Notwendiges, doch es konnte auch sehr zerstörerisch sein.
Als es ein paar Minuten später aufhörte zu regnen, schickte sie ein Dankgebet zum Himmel. Bald darauf durchbrach die warme Nachmittagssonne die Wolkendecke, und Ellie entspannte sich allmählich. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie die ganze Zeit mit hochgezogenen Schultern im Auto gesessen und die Hände so fest um das Lenkrad verkrampft hatte, dass sie ihr wehtaten.
Vor ihr erschien ein blaues Schild. Ausfahrt acht. Nur noch zwei Ausfahrten.
Sie hatte sich vorgenommen, keine Abkürzung zu nehmen. Sich zu verirren, das konnte sie sich heute nicht mehr erlauben.
Vor ihr fuhr ein Caravan im Schneckentempo.
Weitere Kostenlose Bücher