Julia Extra Band 0330
Ellie hätte ihn ohne Weiteres überholen können, die Überholspur war frei. Doch es dauerte fünf Minuten, bis sie sich dazu durchgerungen hatte.
Ihre ganze Aufmerksamkeit war darauf gerichtet, Ausfahrt zehn auf keinen Fall zu verpassen. Immer wieder rief sie sich diese Zahl visuell in Erinnerung, als plötzlich ein langgezogener Hupton sie zusammenzucken ließ. Hinter ihr war plötzlich ein Wagen aufgetaucht, der so dicht auffuhr, dass er beinahe ihre Stoßstange berührte. Ellie war versucht, Gas zu geben, um den Abstand zu vergrößern. Doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben, betätigte den Blinker und fuhr auf die rechte Spur. Ein schnittiger Porsche raste wie ein grellroter Schweif an ihr vorbei.
Wieder so ein egozentrischer Typ, der nur an sich dachte. Mit solchen Typen wollte sie nichts zu tun haben.
Kopfschüttelnd konzentrierte sie sich wieder auf die Fahrbahn und bemerkte erleichtert einen Hinweis auf die nächste Raststätte in zwei Meilen. Sie brauchte jetzt dringend einen Kaffee.
Bald darauf saß sie in einem unbequemen Plastikstuhl, mit einer schmuddeligen Kaffeetasse vor sich. Sie umfasste den warmen Becher mit den Händen.
Der verrückte Porsche-Fahrer hatte sie total durcheinandergebracht und alte, längst verdrängte Erinnerungen zutage gefördert. Obwohl sie sich an den Unfall selbst gar nicht erinnern konnte. Vielleicht war es ein Glück gewesen, dass sie bewusstlos gewesen war, als man sie aus dem Wrack des Autos schnitt, die toten Körper ihres Mannes und ihrer Tochter neben sich. Trotzdem hatte sie das Bild lebhaft im Kopf, und es verfolgte sie in ihren nächtlichen Träumen.
An die erste Zeit im Krankenhaus konnte sie sich ebenfalls nicht mehr erinnern. Alles war wie in einer dichten, undurchdringlichen Wolke verborgen. Die Ärzte hatten ihr gesagt, das sei normal. Posttraumatischer Gedächtnisverlust.
Manchmal wünschte sie sich, wieder in diesem Nebel zu verschwinden. Es war der schlimmste Moment ihres Lebens gewesen, als der dichte Nebel des Vergessens sich endlich gehoben hatte. Denn da war die Wahrheit gnadenlos über sie hereingebrochen, dass sie ihren geliebten Sam und ihre süße achtjährige Tochter Chloe nie wiedersehen würde.
Nur, weil es geregnet hatte, und zwei leichtsinnige junge Männer in ihrem schnellen Auto darauf keine Rücksicht nahmen.
Wieder in ihr Auto zu steigen, fiel ihr jetzt noch schwerer als am Morgen beim Losfahren. Zum Glück war die Autobahn wenig befahren, und sie konnte weiter ihren Gedanken nachhängen.
2. KAPITEL
Als Ellie über einen gewundenen Kiesweg auf Larkford Place zufuhr, war sie ziemlich überrascht. Leute wie ihr neuer Boss wollten doch normalerweise ihren Reichtum zeigen. Aber das entzückende alte Landhaus, das von Rhododendren und knorrigen Eichenbäumen umgeben war, sah so gar nicht nach Protzerei aus. Die rötlichen Backsteine leuchteten warm in der untergehenden Sonne, und die Glyzinie, die sich an der Mauer hochrankte, schien so alt wie das Haus selbst.
Wie wunderschön es hier war, alles wirkte so heiter. Zum ersten Mal seit Langem spürte Ellie etwas anderes als Angst und Verzweiflung. Ein Gefühl von Hoffnung überkam sie, dass ihr Leben sich nach all den schrecklichen Erlebnissen doch noch zum Positiven verändern könnte.
Vor dem Haus weitete sich der Kiesweg zu einem Vorplatz. Hier würde sie allerdings ihr Auto nicht parken, dieser Platz war für den Hausherrn und seine Gäste reserviert. Sie fuhr seitlich am Haus vorbei auf einen gepflasterten Innenhof, um den sich die alten Stallungen verteilten.
Nachdem Ellie sich gereckt und gestreckt hatte, stand sie eine Weile reglos im Hof, während um sie herum die Blätter im Wind rauschten. Dann ging sie langsam auf die efeuumrankte Hintertür zu, holte den Schlüssel, den sie von Charlie bekommen hatte, aus der Tasche und schloss auf.
Zögernd stieß sie die alte Holztür auf und blickte in den dunklen Hausflur. Ein Gefühl von Beklommenheit überkam sie plötzlich. Als würden sich sämtliche anderen Türen unwiderruflich hinter ihr schließen, wenn sie jetzt über diese Schwelle trat.
Aber hatte sie nicht genau das gewollt, die Vergangenheit hinter sich lassen? Entschlossen setzte sie den Fuß über die Schwelle und ging den Flur entlang auf eine Tür zu, hinter der sie die Küche vermutete. Als sie die Tür öffnete, blieb Ellie vor Staunen der Mund offen stehen.
Diese helle, geräumige Küche war der Traum einer jeden Köchin. Man hatte ihr gesagt, das Haus sei gerade
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