Julia Extra Band 0330
schaffen. Aber ich habe es ihm gezeigt“, verkündete sie nicht ohne einen gewissen Stolz in der Stimme. „Zumindest habe ich Kunst bestanden.“
„Nur Kunst?“ Raul dachte an seinen ausgezeichneten Abschluss in Rom und sein Masterdiplom in Harvard. Es schockierte ihn, dass er mit einer relativ ungebildeten Amateurin das Unternehmen seiner Familie weiterführen sollte. Hatte sie etwa nur einen Hochschulabschluss in Kunst?
„Du hast doch auf Ibiza gelebt?“, fragte er weiter, da eine Antwort ausblieb. „Hatte deine Familie dort Grundstücke oder Ähnliches?“
Zögernd schüttelte Libby den Kopf. Doch eigentlich sah sie keinen Anlass, ihren familiären Hintergrund zu verschweigen. „Meine Mutter hat mich allein großgezogen. Einen Vater habe ich nicht, oder besser gesagt, ich weiß nicht, wer er ist. Er hat meine Mutter verlassen, als sie mit mir schwanger war. Bei meiner Geburt war sie erst siebzehn und steckte in ziemlichen Schwierigkeiten.“ Liz’ Drogenabhängigkeit behielt sie für sich, genauso wie den Zustand ihrer früheren Wohnungen. „Das Jugendamt hat zeitweilig meine Pflege übernommen, bis Mum ihre Probleme wieder im Griff hatte. Meine Pflegeeltern waren feine Menschen, aber sie hatten noch sieben weitere Kinder in ihrer Obhut, und das Leben dort war ziemlich hektisch. Ich habe Mum sehr vermisst und war heilfroh, als ich wieder bei ihr leben durfte. Dann nahm sie mich mit nach Ibiza, und wir lebten dort in einer Kommune mit Künstlern und Freidenkern.“
Unwillkürlich hatte Raul eine Horde verantwortungsloser Hippies vor Augen, und er bedauerte Libby aufrichtig wegen ihrer extrem unkonventionellen Kindheit. Hoffentlich hegte sie keine ähnlichen Vorstellungen in Bezug auf Ginos Erziehung! Das würde er niemals erlauben! Der Sohn seines Adoptivvaters gehörte in die Villa Giulietta, und Raul war heilfroh, dass Pietro testamentarisch dafür gesorgt hatte.
Eine weitere Idee keimte in ihm auf. Wenn er Libby heiratete, konnte er Gino adoptieren und das alleinige Sorgerecht beantragen – nur für den Fall, dass sie wieder ein Kommunenleben anstreben sollte. „Und wie lange habt ihr euer Leben dort auf der Insel geführt?“, erkundigte er sich.
„Sieben Jahre. Als ich vierzehn war, kehrten wir nach England zurück. Ich wurde in Spanien zwar von einem Kommunenmitglied unterrichtet – einem ehemaligen Lehrer –, doch auf der staatlichen Schule in England stellte sich schnell heraus, wie groß meine Wissenslücken waren. Außerdem war ich den strengen Alltag mit festen Lernphasen und Schuluniform nicht gewohnt“, gab Libby zu. „Nur in Kunst war ich außergewöhnlich gut.“
Und jetzt, als Erwachsene, bereute sie ihren dürftigen Bildungsweg bitter. Natürlich hatte sie ihre Mutter sehr geliebt, aber sie wusste auch, wie leichtfertig Liz durchs Leben gerauscht war. Die Zeit in der Pflegefamilie war eine harte Prüfung für Libby gewesen, und gerade darum fürchtete sie sich davor, Gino zu verlieren.
Er gehörte einfach zu ihr. Raul war zwar sein Halbbruder, aber trotzdem nicht blutsverwandt mit ihm. Und er würde das Baby niemals so lieben können, wie sie es liebte …
„Wie willst du unter diesen Umständen eine tragende Rolle in der Firma übernehmen?“, wetterte Raul. „Eine Bardame mit einem Abschluss in Kunst …“ Fassungslos schüttelte er den Kopf und brummte etwas auf Italienisch.
„Ich bin vielleicht nicht qualifiziert, aber ich habe mir etwas erworben, das man Bauernschläue nennt“, erwiderte sie mit fester Stimme. „Jahrelang habe ich meiner Mutter bei ihrem Marktstand geholfen, und ich kenne den Unterschied zwischen riskanten und sicheren Geschäftsabschlüssen. Soweit es in meinen Möglichkeiten liegt, werde ich achtsam mit Ginos Firmenanteilen umgehen.“
„Wo bist du eigentlich meinem Vater begegnet?“
Diese Frage traf sie aus heiterem Himmel, und Libby versuchte fieberhaft, sich daran zu erinnern, was Liz ihr erzählt hatte.
„Wir haben uns auf einem Kreuzfahrtschiff getroffen“, murmelte sie zögernd. „Der Aurelia . Es war eine vierwöchige Reise auf dem Mittelmeer.“
Er schien überrascht. „Unternimmst du öfter Kreuzfahrten?“
Das Lügen fiel Libby nicht leicht, und ihre Wangen färbten sich allmählich rosa. „Nein, es war das erste Mal. Ich hatte die Kreuzfahrt gewonnen.“ Wenigstens dieser Teil der Geschichte entsprach der Wahrheit.
„Also bist du meinem Vater an Bord begegnet?“ Raul erinnerte sich an den Tag, als er seinen Vater zum
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