Julia Extra Band 0330
Augen ausreichen.
Jetzt wusste sie, was die Leute meinten, wenn sie davon sprachen, dass die Welt um sie herum buchstäblich stehen blieb. Eine gefühlte Ewigkeit lang starrten sie sich einfach nur an.
Dann, von ganz weit her, hörte Julie die Stimme ihres Vaters. „Julie?“
Sie blinzelte, und die Welt bewegte sich weiter. Edward Granton stand direkt vor seiner Tochter und reichte ihr den gewünschten Martini. Sie hob langsam das Glas an die Lippen und trank einen Schluck.
Hitze rann ihre Kehle hinunter. Aber die stammte nicht vom Alkohol, sondern von einer sehr viel stärkeren Quelle des Rausches.
Kraftvoll genug, um Julie fortzureißen und in eine Welt zu entführen, aus der sie vielleicht nie mehr zurückkehren würde. Oder zurückkehren wollte. Im Geist sprach sie einen Toast auf ihr Schicksal aus und las in Nikos’ Gesicht, dass dieser seine Emotionen wieder hinter einer Fassade verbarg. Doch es machte ihr nichts aus. Siegessicher lächelte sie in sich hinein und entblößte dabei eine Reihe perfekter, perlweißer Zähne.
Nikos stürzte einen großen Schluck von seinem trockenen Martini hinunter. Er konnte ihn gut gebrauchen, denn seine vertraute Selbstkontrolle schien sich gerade in Luft aufzulösen. Dem musste er schnellstmöglich Einhalt gebieten.
Julie Granton hatte ihn vom ersten Augenblick an fasziniert, und in diesem aufreizenden Kleid machte sie sogar noch mehr Eindruck auf ihn. Nikos fand nicht einmal Worte dafür, ihren Effekt realistisch zu beschreiben. Sie war schlicht und ergreifend umwerfend.
Aber nicht auf die Art, wie Frauen für gewöhnlich seine Bewunderung gewannen, mit sexy Kleidern oder verführerischen Liebeskünsten. Julie berührte ihn an einem Punkt, der bisher unangetastet geblieben war.
Und er verspürte echtes Verlangen, obwohl ihm klar war, dass dieser Gedanke in eine höchst verbotene Zone gehörte. Aber Zurückhaltung zu üben war leichter gesagt als getan. Es war unmöglich, ihrer perfekten Figur, ihrem Haar und ihrem hübschen Gesicht nicht die angemessene Beachtung zu schenken. Außerdem sah sie mit Make-up wesentlich älter aus, wie Nikos erfreut feststellte.
Andererseits war er nicht hier, um sich zu amüsieren und Edward Grantons hinreißender Tochter den Hof zu machen. Er war gekommen, um herauszufinden, ob Grantons Firma die Mühe und das Risiko einer Rettung wert war. Mehr nicht, und trotzdem …
Heute war er Gast bei einem Abendessen, und Nikos würde das Beste aus dieser Einladung machen – und die Gesellschaft dieses goldhaarigen Mädchens genießen.
Die Diskussionen mit Edward Granton waren nicht gerade einfach gewesen. Auch die Zahlen, die er vorlegte, überzeugten Nikos eigentlich nicht, und Granton selbst wirkte fürchterlich angespannt. Allein diese Tatsache war schon ein vielsagendes, schlechtes Zeichen.
Eventuell hielt der Alte noch andere potenzielle Retter in der Hinterhand, aber das würde er Nikos wohl kaum auf die Nase binden. Von seinem Vater hatte Nikos viel über den Verhaltenskodex der Geschäftswelt gelernt, und ein Fehler konnte ihn ausgesprochen teuer zu stehen kommen. Er war nicht gerade als Sohn eines reichen Vaters aufgezogen worden, der das Geld nicht zu schätzen wusste. Nein, man hatte ihn gelehrt, Verantwortung zu übernehmen.
Sein Vater hatte ihm Vertrauen geschenkt, und Nikos würde dieses nicht missbrauchen, indem er sich von seiner Mission ablenken ließ. Auch nicht von diesem Mädchen, das ihn in seinen Bann zog.
Spontan erwog er, sich mit einer Entschuldigung vor diesem Dinner zu drücken. Das wäre sicherer. Warum fiel ihm in diesem Zusammenhang das Wort Sicherheit ein? Nikos zog die Stirn kraus. Das klang ja beinahe, als wäre er irgendwie in Gefahr!
Ungeduldig schüttelte er diesen Gedanken ab. Jetzt übertrieb er wirklich. Schließlich ging es hier nur um ein harmloses Abendessen mit Edward Granton und seiner Tochter.
Ahnte Julie eigentlich, wie prekär es um die Position ihres Vaters bestellt war? Auf welch wackeligen Beinen ihre finanzielle Versorgung stand, die für ihre Designerkleider sorgte und das Wohnen in einem der exklusivsten Stadtteile Londons möglich machte? Einmal ganz zu schweigen von den Studiengebühren und dem riesigen Flügel, den Nikos im Nebenraum hatte stehen sehen.
Nein, vermutlich wusste Julie nicht Bescheid. Edward Granton war in Nikos’ Augen der typische altmodische Vatertyp, nachsichtig und beschützend, und Julie wirkte auf ihn extrem unbeschwert. Ihr Verstand schien sich momentan
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