Julia Extra Band 0330
„Ein inoperabler Hirntumor, der erst im Oktober davor diagnostiziert wurde und ziemlich schnell gewachsen ist. Hast du etwa von seiner Krankheit gewusst?“, fragte er plötzlich scharf.
Libby schüttelte den Kopf. Pietro musste kurz nach der Kreuzfahrt krank geworden sein, die ihre Mutter gewonnen hatte. Auf dem Schiff hatte Liz sich ernsthaft in den faszinierenden Italiener verliebt. Sie entschuldigte sich sogar bei ihrer Tochter dafür, jahrelang behauptet zu haben, dass Männer unzuverlässig seien und man niemals sein Herz an einen verlieren dürfe.
Als sie nichts mehr von Pietro hörte, war Liz am Boden zerstört gewesen – vor allem, nachdem sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr. „Ich habe es schon wieder getan, Libby“, hatte sie geschluchzt und das Teststäbchen in die Höhe gehalten. „Ich habe einem Mann vertraut, und nun sitze ich allein mit seinem Baby da. Genau wie bei deinem verfluchten Vater! Allmählich sollte ich doch wohl begriffen haben, dass alle Kerle selbstsüchtige Bastarde sind, oder etwa nicht?“
Bis zum heutigen Tag hatte Libby Pietro für sein Verhalten verachtet, aber offensichtlich hatte der ältere Mann unmittelbar nach der Kreuzfahrt erfahren, wie unheilbar krank er war. Jeder Mensch ging anders mit einem solchen Schicksal um. Und als Liz ihm endlich schrieb, hatte er möglicherweise nicht mehr die Kraft für eine entsprechende Antwort. Immerhin hatte er aber noch verfügt, dass für Liz und Gino gesorgt war.
Lange hatte Gino ruhig auf dem Arm seiner Schwester gesessen, doch nun fing er wieder an zu husten. Sie gab Raul ein Zeichen, ihr zu folgen, und ging die Treppe hinauf in den ersten Stock, um Ginos Medizin zu holen.
„Was hat er eigentlich?“, fragte Raul direkt hinter ihr, als sie ihre Hand gerade auf die Klinke der Wohnzimmertür legte.
„Er hatte eine Bronchitis, die sich leider zu einer ausgewachsenen Lungenentzündung entwickelt hat“, erklärte Libby über die Schulter. „Es ging ihm sehr schlecht, er musste zwei Wochen im Krankenhaus verbringen. Und jetzt werden wir diesen schrecklichen Husten nicht mehr los. Der Arzt meint, die feuchten, schimmeligen Wände in diesem Haus würden alles nur noch schlimmer machen.“
Mit dem Fuß stieß sie die Tür zum Wohnzimmer ganz auf und zuckte heftig zusammen. Bei all den Überraschungen hatte sie völlig vergessen, was für ein Drama sich am Vortag abgespielt hatte. Ein Teil des Dachs hatte nachgegeben, und Regenwasser war ins Schlafzimmer eingedrungen.
Zum Glück war ihr guter Freund Tony zur Stelle gewesen – buchstäblich als Retter in der Not. Er war vorbeigekommen, um mit Libby eine Flasche Wein zu teilen und ihre finanzielle Notlage zu besprechen. Gemeinsam hatten sie die zum Teil durchweichten Sachen ins Wohnzimmer verfrachtet, und Tony hatte das Loch in der Decke notdürftig zugestopft. Dabei war er allerdings klatschnass geworden und musste seine Sportsachen aus dem Auto holen und sich umziehen.
Ihre Bilder lehnten am Sofa, und die Kleider lagen in Stapeln und Bergen auf dem Fußboden. Zu ihrem Entsetzen lag die Unterwäsche ganz obenauf. Auch Raul fielen zuerst die vielen knallbunten Baumwollhöschen auf. Libby wäre am liebsten im Erdboden versunken.
Sein Blick wanderte über die teilweise abgeblätterte Tapete und die dunklen Stockflecken an der Fensterseite, die sich auch mit Schimmelreiniger nicht dauerhaft vermeiden ließen. Dabei wuchs seine Verachtung von Minute zu Minute.
Als Liz und Libby im vergangenen Jahr Geschäft und Wohnung besichtigt hatten, waren die Räume hell, sauber und trocken gewesen. Doch nach dem nassen Winter konnte man eine grauenhaft schlechte Bausubstanz nicht mehr leugnen, und Libby kämpfte hier regelrecht gegen Windmühlen. Die Feuchtigkeit saß in den Wänden fest und ließ sich durch nichts und niemand wirksam bekämpfen.
„Entschuldige das ganze Chaos“, murmelte sie peinlich berührt. „Mein Schlafzimmer stand letzte Nacht plötzlich unter Wasser, und da mussten wir meinen ganzen Kram hier hereinschaffen.“
„Wir?“
„Mein Freund Tony war zum Glück da.“ Sie folgte seinem Blick zu dem niedrigen Beistelltisch, auf dem drei leere Weinflaschen und zwei benutzte Gläser standen.
„Sieht ja nach einer anständigen Party aus“, knurrte Raul abfällig.
Er glaubt doch wohl nicht, wir hätten drei Flaschen getrunken? ging es ihr durch den Kopf. „Tony arbeitet in einer Bar und bringt mir manchmal alte Weinflaschen mit, die ich dann dekoriere und auf
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