Julia Extra Band 0339
Mortimer
Keine Chance für die Liebe?
1. KAPITEL
Abrupt blieb Mary stehen, als sie die hochgewachsene Gestalt am Ende der Metalltreppe entdeckte. Es war bereits dämmrig, und die Stiegen führten von ihrer Wohnung im ersten Stock eines ehemaligen Lagerhauses in eine schmale, schwach beleuchtete Seitenstraße. Abgesehen von dem Mann dort unten war niemand zu sehen.
Er war groß und breitschultrig und trug einen dunklen Mantel, der ihm fast bis zum Knöchel reichte. Das ebenfalls dunkle, etwas zu lange Haar war aus der Stirn gekämmt, und er hatte auffallend markante Gesichtszüge, mit hohen Wangenknochen, aristokratischer Nase und eckigem Kinn. Die Augen waren hell – ob grau oder blau, konnte man aus der Entfernung nicht erkennen.
Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Mary nach Pinsel und Palette gegriffen, um ein solches Gesicht auf der Leinwand festzuhalten, doch nach Malen war ihr im Moment nicht zumute. Sie fragte sich, was der Mann auf ihrem Grundstück zu suchen hatte.
Fröstelnd knöpfte sie die rosa Strickjacke zu, nachdem sie das lange schwarze Haar darunter hervorgezogen hatte. Es war Anfang Dezember und die Abendluft kalt.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte sie brüsk, während sie sich gleichzeitig die Ju-Jutsu-Griffe, die sie als Studentin erlernt hatte, ins Gedächtnis zurückrief. Man konnte nie wissen …
„Vielleicht“, erwiderte der Fremde. „Wissen Sie zufällig, ob Mary McCoy zu Hause ist?“
Woher kennt er meinen Namen ? Sie hatte diesen Menschen noch nie gesehen.
„Was wollen Sie von ihr?“
Er runzelte die Stirn. „Ich verstehe, dass Sie misstrauisch sind, aber …“
„Ach ja?“
„Natürlich. Ich habe Sie erschreckt, und das tut mir leid, es war nicht beabsichtigt. Ich versichere Ihnen, dass der Grund meines Besuchs durchaus legitim ist. Ich möchte lediglich mit Miss McCoy sprechen.“
„Und wenn Miss McCoy nicht mit Ihnen sprechen will?“
Der Mann lachte gezwungen. „Das ist hoffentlich nicht der Fall. Wie dem auch sei, anstatt hier noch lange herumzustehen und rumzurätseln …“
„Das habe ich auch nicht vor, ich bin nämlich in Eile. In genau zehn Minuten machen die Patels dicht.“
„Wer?“
„Die Patels. Die Inhaber des Tante-Emma-Ladens zwei Straßen weiter. Und da ich noch ein paar Sachen einkaufen muss …“ Sie stieg die restlichen Stufen hinab und blieb vor ihm stehen. „Würden Sie mich bitte vorbeilassen?“
Das angenehm würzige Aroma seines Rasierwassers stieg ihr in die Nase. Seine Augen waren von einem leuchtenden Blau, und der Blick war so intensiv, dass es ihr einen Moment lang den Atem verschlug. Er war viel größer als sie und, den breiten Schultern nach zu urteilen, auch viel kräftiger. Was Mary jedoch nicht weiter beunruhigte – bei Ju-Jutsu zählte Technik, nicht etwa Muskelkraft, und die Technik beherrschte sie im Schlaf.
„Da Sie aus Miss McCoys Wohnung kommen, nehme ich an, Sie sind mit ihr befreundet“, bemerkte er.
„So, das nehmen Sie also an.“ Ironisch verzog sie den Mund.
Inzwischen bedauerte Jonas den impulsiven Entschluss, Mary McCoy noch so spät und ohne Voranmeldung aufzusuchen. Hätte er vorher mit ihr telefoniert, stünde er jetzt nicht vor verschlossener Tür. Und eine ihrer Freundinnen hätte er auch nicht behelligen müssen.
Diskret musterte er die halbe Portion vor ihm. Sie hatte wunderschönes schwarzes Haar, das ihr fast bis zur Taille reichte, und ein apartes Gesicht mit mandelförmigen rauchgrauen Augen. Eigentlich war sie sehr hübsch, wenn auch viel zu dünn. In der zu großen, nicht allzu sauberen Latzhose und den mit Farbe beklecksten Turnschuhen machte sie ganz den Eindruck der am Hungertuch nagenden Künstlerin. Was sie wohl auch beabsichtigte.
Kalt schien ihr auch zu sein, was Jonas durchaus nicht verwunderte. Die dünne rosa Strickjacke bot wenig Schutz gegen den scharfen Wind. Da er nach einer einwöchigen Geschäftsreise in Australien erst seit gestern wieder in London war, fand er selbst seinen Mantel aus Kaschmir nicht zu warm.
„Ich bedaure aufrichtig, dass ich Sie erschreckt habe“, entschuldigte er sich erneut, während er zur Seite trat, um sie vorbeizulassen.
Sie sah zu ihm auf – mit dem Scheitel reichte sie ihm gerade bis ans Kinn. „Sie haben mich nicht erschreckt“, versicherte sie spöttisch. Die Strickjacke enger um sich ziehend, wandte sie sich ab und eilte davon. An der zweiten Kreuzung blieb sie kurz stehen, um sich nach ihm umzudrehen. Die Straßenlampe
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