Julia Extra Band 159
schon der Gedanke an die kommende Nacht, in der sie vor lauter Fragen kaum Schlaf finden würde, ließ sie erschauern. Doch vielleicht bin ich gar nicht die einzige, die vor der Wahrheit wegläuft, dachte sie, als sie sich ein Nachthemd .anzog und das Deckenlicht löschte.
Bitter zog sie die Lippen zusammen, als sie sich zwischen die kühlen Leinenlaken schob. Es schien Jaime schon den ganzen Abend über nicht leichtgefallen zu sein, ihre Anwesenheit zu ertragen. Vielleicht hatte er daher entschieden, daß es besser sei, sich erst einmal nicht mehr zu sehen.
Sie nahm die Schale und trank einen Schluck heiße Schokolade. Die ganzen Jahre über hatte sie einen Schutzwall aufgebaut, doch jetzt brach er zusammen, und die Erinnerung daran, wie sehr sie ihn einst geliebt hatte, war nicht mehr zu verdrängen. Sein Verrat damals hatte sie fast zerstört, und sie hatte lange gebraucht, um ein eigenes Leben zu gestalten.
Beth schloß die Augen, doch ließen sich die Bilder nicht vertreiben. In den ersten Wochen, nachdem er sie verlassen hatte, hatte sie immer und immer wieder an jeden einzelnen Augenblick ihrer Beziehung zurückgedacht, und es war ihr unmöglich gewesen, die Liebe, die sie für ihn bis zum bitteren Ende empfunden hatte, zu unterdrücken. Dann aber hatte sie langsam die Kraft gefunden, ihn so zu sehen, wie sie ihn am Schluß erlebt hatte. Sein sonst so angenehm anzuschauendes Gesicht hatte sich in eine kalte, abweisende Maske verwandelt.
Sie war erst neunzehn gewesen, und er hatte ihr keine Chance gelassen. Vielleicht aber war sie auch verletzlicher gewesen als andere Frauen, da sie sich so lange nach liebevoller Zuneigung gesehnt hatte. Einen Monat nach ihrem elften Geburtstag waren ihre geliebten Eltern bei einem schrecklichen Autounfall aus dem Leben gerissen .worden. Zehn Monate später war ihr Großvater, bei dem sie lebte und dem es langsam gelungen war, in ihr wieder Lebenslust zu wecken, einem Herzinfarkt erlegen. Von dort an war ihr Leben traurig und freudlos gewesen, da sich die Witwe ihres Großvaters mehr schlecht als recht um sie gekümmert hatte. Die Großeltern hatten erst spät geheiratet, und Agnes Miller, die wesentlich jünger war, hatte ihre Antipathie dem Kind gegenüber niemals verheimlicht. Aus irgendeinem irrationalen Grund machte sie ihre Enkelin für den Tod ihres Mannes verantwortlich.
Dadurch, daß Agnes auch zu anderen Menschen stets unfreundlich war, hatte Beth niemals Freunde gehabt und die ganze Schulzeit über allein gelebt. Als Beth vierzehn war, hatte sie erfahren, daß die Schule ein Projekt unterstützte, bei dem armen Menschen in der dritten Welt geholfen wurde. Sofort war ihr klar gewesen, was sie später einmal machen wollte. Sie würde Spanisch und Pädagogik studieren, um Kindern zu helfen, die noch weniger Glück im Leben hatten als sie selbst ... Jahrelang verfolgte sie voller Eifer diesen Traum, der sie oftmals über die einsamen Tage ihrer Kindheit hinweggetröstet hatte.
Dann ging die Schulzeit zu Ende, und die Universität zeigte ein ganz neues Leben auf. Es gab ungeahnte Abenteuer und Entfaltungsmöglichkeiten. Eine Studentin, die Beth recht gut kannte, erzählte ihr, daß sieden ganzen Sommer in Spanien verbringen werde, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Sie hatte einen Schulfreund, dessen Eltern eine Villa in Mallorca besaßen. Beth hatte nicht versteckt, wie sehr sie die andere Studentin beneidete. Eines Tages hatte diese sie gefragt, ob sie nicht mitkommen wolle.
„Offen, gestanden würdest du mir damit sogar einen großen Gefallen tun", versuchte sie, Beth zu überreden. „Die anderen fahren nur nach Spanien, um jeden Tag ein Fest zu feiern. Und deine spanische Aussprache ist ja auch nicht viel besser als meine, das wäre doch eine gute Gelegenheit, etwas dafür zu tun."
Beth hatte jedes Wochenende und drei Nächte pro Woche in einem Restaurant gearbeitet, um das Geld für die Reise zu verdienen.
Arme Lily, dachte Beth an damals zurück, und wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen. Die Freundinnen hatten in Spanien tatsächlich jede Nacht ein rauschendes Fest gefeiert, während Lily sich schlaflos im Bett wälzte. Eine Woche nach ihrer Ankunft auf der Insel hatte sie die Koffer gepackt und war nach England zurückgekehrt. Beth aber war geblieben, denn zu diesem Zeitpunkt war schon Jaime in ihr Leben getreten. Und nachdem sie ihn kannte, wollte sie niemals mehr woanders sein als er.
Die Erinnerung daran war schmerzhaft, und Beth
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