Julia Extra Band 358
ihr eine Freude machen, in der Hoffnung, sie dadurch irgendwann in sein Bett locken zu können. Eher unwahrscheinlich! Falls er sie überhaupt begehrte, wäre er der Typ, die Sache offen und direkt anzugehen. Keine Geschenke, keine Komplimente und keine unnötigen Umwege. Dann blieb nur die Möglichkeit, dass sie ihm aufrichtig leidgetan hatte und er aus Mitleid eine Replik zum Trost anfertigen ließ.
Vasilii und Mitgefühl – das passte überhaupt nicht zusammen.
Vorsichtig schloss sie die beiden Schachteln. Im Grunde hätte sie schnurstracks zu Vasilii gehen und ihm den dritten Ohrring zurückgeben müssen, aber das würde sie nicht tun. Warum eigentlich nicht? Weil er gereizt darauf reagieren könnte, dass sie seine freundliche Geste als solche enttarnt hatte? Wollte sie ihn beschützen?
Ja.
Nein!
Ich will lediglich unser berufliches Verhältnis schützen, redete Laura sich entschlossen ein. Bis jetzt läuft alles dankenswerterweise hervorragend, und das will ich auf keinen Fall gefährden.
Ihr gefiel der Job. Es fühlte sich gut an, einen herausfordernden, eigenverantwortlichen Posten innezuhaben. Endlich konnte sie einmal die gesamte Bandbreite ihrer Qualifikation unter Beweis stellen. Und Laura hatte sich fest vorgenommen, sich Vasiliis Anerkennung zu verdienen. Nicht nur, weil es ihrer Karriere förderlich wäre, sondern … Sie wollte einfach das befriedigende Gefühl genießen, eine Arbeit überdurchschnittlich gut erledigt zu haben. Ja, das war es. Das musste es sein.
In jedem Fall wäre es unklug, Vasilii auf sein überraschendes Mitgefühl anzusprechen, das er selbst sicherlich als persönliche Schwäche auslegte.
Es gab noch eine kleine Aufgabe, die Laura erledigen wollte, bevor sie sich mit Wu Ying traf. Sie schrieb einen Brief an ihre Tante, die wie viele Menschen ihrer Generation nur auf diesem konventionellen Kommunikationsweg zu erreichen war. Die alte Dame hielt nichts von Computern oder Handys und empfand einen schnöden Telefonanruf gar als unhöflich.
Lächelnd verfasste Laura ihre Zeilen, als Vasilii wenig später ins Zimmer trat und stutzte. Der verklärte Ausdruck auf ihrem Gesicht irritierte ihn. Sie war derart in Gedanken verloren, dass sie ihn zuerst gar nicht bemerkte. Ihre Lippen bewegten sich lautlos, so als würde Laura stille Selbstgespräche führen.
Mit angehaltenem Atem starrte Vasilii sie an, während Laura sich gedankenverloren auf die Unterlippe biss und anschließend mit der Zungenspitze darüber fuhr. Jetzt sah ihr Mund aus, als wäre sie gerade geküsst worden, hart und fordernd. So als hätte er … als hätte jemand …
Ein Muskel in seinem Kiefer zuckte wie wild, und Vasilii schlug sich den Gedanken energisch aus dem Kopf. Zum Glück wurde Laura in diesem Moment bewusst, dass sie nicht allein war, und die knisternde Atmosphäre normalisierte sich wieder – für ihn.
Laura hingegen wurde sichtbar rot. „Entschuldigen Sie“, sagte sie nervös. „Ich habe Sie gar nicht bemerkt. Das hier wird ein Brief an meine Tante. Sie hält nicht viel von E-Mails oder Telefonanrufen.“
„Klingt ziemlich zeitraubend.“
„Mir macht das nichts aus. Ich genieße es sogar, es hat so etwas Beruhigendes und Persönliches.“ Sie legte den Füller auf die Schreibunterlage. „Sie war meine Rettung nach dem Tod meiner Eltern. Ich habe sie schrecklich vermisst und fühlte mich entsetzlich einsam, völlig alleingelassen. Meine Tante hat mich damals ermutigt, meinen Eltern zu schreiben, so als wären sie noch am Leben. Ich sollte ihnen mitteilen, wie es mir geht. Das hat mir sehr geholfen. Es ist hart, wenn Eltern sterben, das wissen Sie selbst wohl am besten. Ich habe meiner Tante viel zu verdanken. Da ist es nicht zu viel verlangt, dass ich mich einmal in der Woche hinsetze und ihr einen persönlichen Brief schreibe.“
Während Vasilii ihr zuhörte, spürte er, wie sich ihm das Herz in der Brust zusammenzog. Ihre Worte berührten ihn. Er trug selbst eine tiefe Wunde in sich, die Verlust und Einsamkeit ihm zugefügt hatten, und er hasste es, an diese Verletzung erinnert zu werden. Seine Strategie bestand in konsequenter Verdrängung und einem Schutzpanzer aus absoluter Härte. Niemand durfte in seiner Gegenwart von seiner Mutter reden. Doch Laura erwähnte sie einfach so in einem Nebensatz – und weckte damit das Trauma seiner Kindheit.
Seine eigene Unsicherheit machte ihn wütend und ungerecht. „Warum haben Sie Ihre Tante dann im Stich gelassen, als sie Ihre Hilfe
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