Julia Extra Band 362
beruhigt, doch ihre Stimme war noch immer schwach, ihr Tonfall zögerlich. „Wenn er je herausfindet, dass Keir sein Fleisch und Blut ist, wird er um ihn kämpfen.“ Ein dunkler Schatten hatte sich über ihre Augen gelegt. „Rafe, das ist nicht Ihre Schlacht. Obwohl ich Sie da hineingezogen habe.“
„Ich möchte herausfinden, was der eigentliche Grund für Ihre entsetzliche Angst ist.“ Er ließ nicht locker. „Haben Sie mir auch alles berichtet? Sie sind eine starke Frau – und doch haben Sie Angst vor ihm. Selbst wenn sich Ihre schlimmsten Befürchtungen erfüllen sollten, sind Sie dennoch fähig, die Situation unter Kontrolle zu behalten.“
Sie nahm alle ihren Mut zusammen. „Es gibt da noch etwas“, sagte sie. „Nur Kleinigkeiten …“ Ihre Stimme schwand.
„Erzählen Sie“, ermunterte er sie.
„Eines Tages brachte mir einer der Männer einen Baby-Papagei, der aus dem Nest gefallen war. Einen kleinen Vogel mit goldblauem Gefieder, der die Stimmen von Menschen imitieren konnte. Ich habe ihn großgezogen. Doch als er die ersten Worte sprechen konnte, die ich ihm beigebracht hatte, starb er. Ich durfte den toten Körper nicht sehen, David hat ihn sofort vergraben. Zunächst habe ich mir nichts Böses dabei gedacht. Doch als ein Hundewelpe, der immer zu meinen Füßen spielte, ebenfalls über Nacht starb, wurde ich nachdenklich.“
Obwohl Marisa kurz innehielt, blieb Rafe still. Bald fuhr sie fort. „Er hat mir einen anderen Welpen versprochen, doch er hielt sein Versprechen nicht …“
Sie bemerkte sein Stirnrunzeln, redete jedoch weiter. „Oder nehmen Sie meine Malerei – zuerst war es ein Hobby. Doch nach Monaten war es mir zum Lebensinhalt geworden. Als die Materialien ausgingen, versprach er, neue zu besorgen. Doch auch die bekam ich nie. Ich kann Ihnen nicht schildern, wie leer ich mich gefühlt habe. Nichts zu tun außer der ungeliebten Hausarbeit und keinen Kontakt zu anderen Menschen außer ihm. Es gab keine Bücher, und er sah keinen Bedarf, einen Garten anzulegen …“ Ihre Stimme versagte.
„Fahren Sie fort“, sagte Rafe unbeirrt.
„Ich wollte Spanisch lernen. Er gab vor, es für eine gute Idee zu halten. Er selbst hatte vom Umgang mit den Arbeitern bereits eine Menge gelernt, doch mir die Sprache beizubringen, dazu war er ständig zu müde. Und er untersagte mir, mich mit den Männern zu unterhalten. Er fing die Briefe meiner Eltern ab, sodass ich nicht antworten konnte.“ Sie endete mit einer resignierten Handbewegung. „Es klingt verrückt und wahrscheinlich für Sie ein bisschen albern …“
„Es erinnert mich an ein Terrorregime“, kommentierte Rafe grimmig. „Was war mit seinen Eltern? Hatten Sie Kontakt zu ihnen?“
„Nein. David hat seine Eltern nie kennengelernt, er wurde schon als Baby zur Adoption freigegeben. Doch irgendetwas muss geschehen sein, als er sieben war – was genau, weiß ich nicht –, und er hat den Rest seiner Kindheit in Pflegeheimen verbracht. Er hatte nie eine wirkliche Heimat.“
„Wie das?“
Sie zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Er hat nie darüber gesprochen. Er wollte immer der Größte sein. Wenn jemand ihn verletzt hat, hat er es hundertprozentig zurückgezahlt. Wenn er noch immer so denkt und handelt, gäbe es für ihn keinen besseren Weg, es mir heimzuzahlen, als mir Keir wegzunehmen.“
Darüber zu sprechen nahm all ihre Kraft in Anspruch, doch sie schuldete Rafe die Wahrheit. „Keir wird ihm äußerlich immer ähnlicher. David müsste nur einen DNA-Test machen lassen, dann hielte er die Wahrheit schwarz auf weiß in Händen.“ Sie hob den Kopf, um in Rafes Augen nach einem Funken von Verständnis zu suchen. „Sie haben den Begriff ‚Terrorregime‘ verwendet. Das ist es, was ich so fürchte – dass er Keirs Seelenfrieden zerstören könnte. Mein Sohn hat so ein unschuldiges, sonniges Gemüt …“ Sie unterdrückte ein paar Tränen und sagte tapfer: „Ich werde alles tun, um ihn vor seinem Vater zu schützen.“
„Ich kann verstehen, warum Sie ihn von Keir fernhalten wollen. Doch wenn er darauf bestünde, würde man ihm höchstwahrscheinlich gestatten, ihn zu sehen.“ Rafe versuchte, objektiv zu sein, die beiden Seiten abzuwägen. „Dazu kommt, dass Ihre Lügen Sie in eine ungünstige Position versetzen würden.“
„Ich weiß“, stimmte sie zu. „Meinen Sie etwa, mich beschäftigt dieser Gedanke nicht? Dieses Lügengebäude erdrückt mich, seit ich es aufgebaut habe.“ Sie begann schneller zu
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