Julia Extra Band 363
in ihren blauen Augen zu versinken.
„Ned hat ihr das Lipgloss zu Weihnachten geschenkt. Wir haben es sozusagen ihm zu Ehren aufgelegt.“
Offensichtlich habe ich sie falsch eingeschätzt, dachte Gianni beschämt. Auf jeden Fall übte diese Frau eine geradezu magische Anziehungskraft auf ihn aus. Ihre Augen verrieten Mitgefühl und Wärme, und es war, als könne sie bis auf den Grund seiner Seele sehen und seinen Schmerz spüren.
Aber solche lächerlichen Gefühlsregungen durfte er sich nicht erlauben. Schnell wandte er sich wieder ihrer Tochter zu.
„Musst du heute gar nicht in die Schule, Grace?“
Grace sah zu Boden, als fiele ihr in diesem Augenblick wieder ein, zu welchem traurigen Anlass sie zusammengekommen waren. Gianni ärgerte sich über seine unbedachte und taktlose Frage. Woran lag es bloß, dass er Kindern gegenüber regelmäßig sein schlechtestes Benehmen an den Tag legte? Er wäre am liebsten im Boden versunken.
Die Kleine lächelte tapfer. „Es ist Neds Tag. Die Schule hat heute geschlossen, weil wir alle seine Beerdigung feiern“, erklärte sie.
Emma legte ihrer Tochter eine Hand auf die Schulter. „Wir haben Ned alle sehr gerne gehabt, Grace. Aber in jedem Land gehen die Menschen anders mit ihrer Trauer um. Eine Beerdigung kann ein fröhlicher, aber auch ein sehr trauriger Anlass sein.“ Sie schenkte Gianni ein verlegenes Lächeln. „Ned hat immer gesagt, man soll das Leben genießen, solange es geht, anstatt sich über seine Endlichkeit zu grämen. Deswegen sind die Kinder dabei. Und deswegen lassen wir auf seiner Beerdigung Ballons steigen und spielen Cricket.“ Sie nickte zu den Teenagern hinüber.
Gianni sah zu Angus, Neds Sohn und sein bester Freund. Er war es gewesen, der ihn nach dem verheerenden Erdbeben damals aus den Trümmern geborgen hatte, als alle anderen die Suche schon eingestellt hatten. Dank Angus war aus dem gedankenlosen Playboy mit einem Hang zur Selbstzerstörung, der er damals gewesen war, ein engagierter Arzt geworden.
Trotzdem konnte er nicht verstehen, wie Angus unmittelbar nach dem Tod seines Vaters so fröhlich sein konnte. Andererseits freute er sich darüber, seinen Freund in guter Stimmung zu sehen. Lachend kämpfte er mit seinem Dudelsack, den er noch nicht richtig zu beherrschen schien.
Offenbar hielt man in Lyrebird Lake nichts von schwermütigen Zeremonien. Gianni wünschte sich, er hätte den alten Arzt noch persönlich kennengelernt, der selbst nach seinem Tod so viel Wärme und Lebensfreude in anderen Menschen hervorrief. Vielleicht hätte er selbst einen Ort wie diesen gebraucht, um mit seiner Trauer fertigzuwerden.
Emma folgte seinem Blick. „Angus erzählte mir, dass Sie Ihre Frau verloren haben.“ Ihre Bemerkung versetzte Gianni einen Stich ins Herz. Da beugte sich Emma unvermittelt zu ihm und küsste ihn leicht auf die Wange. „Das tut mir leid.“
Er konnte das Erdbeeraroma ihres Lipgloss’ riechen und verspürte einen kühlen Luftzug an der Stelle, die eben noch ihre warmen Lippen berührt hatten.
Zukünftig würde er beim Duft von Erdbeeren immer an diesen Kuss denken. Warum hatte sie das getan? Und doch war an diesem Kuss nichts Ungehöriges gewesen. Im Gegenteil, es hatte sich gut und richtig angefühlt.
„Also sind Sie hierhergekommen, um Ihrem Freund Angus beizustehen“, nahm Emma das Gespräch wieder auf. „Das ist sehr freundlich von Ihnen. Er wird Ned sehr vermissen.“
Gianni versuchte ihren Worten zu folgen. Eigentlich war er ein durch und durch rationaler Mensch, aber Emma Rose hatte ihn völlig aus dem Konzept gebracht. „Danke. Ich bedaure es sehr, dass ich Dr. Campbell nicht mehr kennenlernen konnte.“
„Er war ebenfalls ein freundlicher Mensch.“ Mit einer Hand wischte sie einen Rest Lipgloss von seiner Wange. „Verzeihung.“
„Riecht gut“, sagte er und schielte verstohlen auf ihren Mund. Ob ihre Lippen wohl ebenso gut schmecken würden? Sofort begann seine Fantasie Purzelbäume zu schlagen. Schluss damit! befahl er sich selbst. Er wandte sich wieder Emma zu. „Möchten Sie mir nicht Ihren Mann vorstellen?“
Sie legte den Kopf schief und schien zu zögern, bevor sie ihm antwortete. „Ich habe keinen Mann.“
„Also sind Sie Witwe – oder geschieden?“ Sie schüttelte den Kopf, und ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem leicht spöttischen Lächeln. Sie sah wirklich zum Anbeißen aus.
Sie musste ihre Tochter sehr früh bekommen haben. Vermutlich in einem Alter, in dem sie selbst noch ein
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