Julia Extra Band 363
Bleiglas gefassten Eingangstür, die in einen angenehm kühlen, dämmrigen Flur führte. Gianni atmete tief ein. Der Geruch von Möbelpolitur und Eukalyptus beruhigte ihn.
Zu beiden Seiten des Flurs lagen mehrere Schlafzimmer mit hohen Decken und antiken Möbeln. Sie wirkten gemütlich und einladend wie alles in diesem Haus.
Emma bemerkte seine verstohlenen Blicke. „Das Sprechzimmer und die Behandlungsräume liegen im hinteren Teil des Hauses und haben einen separaten Eingang“, erklärte sie. „Hier vorne sind manchmal auswärtige Ärzte und Pflegepersonal untergebracht. Louisa kocht dann für die ganze Mannschaft.“ Sie waren am Ende des Flurs angelangt. „Und das hier ist das Herz des Hauses – Louisas Küche.“
Louisa war eine kleine, rundliche Frau. Alles an ihr schien weich und mütterlich zu sein. Im Moment stand sie unbeweglich an einem alten Steinspülbecken, in der Hand einen Lappen und eine Tasse, und starrte aus dem Fenster.
Gianni kannte diesen Gesichtsausdruck nur zu gut, denn er begegnete ihm in seinem Beruf täglich. Es war die Trauer um einen geliebten Menschen. Bei seinem letzten Einsatz nach einem Tsunami in Samoa hatte die Trauer der Hinterbliebenen ihn bis in seine Träume verfolgt und dafür gesorgt, dass sein eigener Schmerz wach und frisch blieb.
Emma ging zu Louisa, nahm ihr vorsichtig die Tasse aus der Hand und legte ihr einen Arm um die Taille.
„Bist du in Ordnung?“ Ihre Stimme klang weich und fürsorglich und drang tief in sein Herz. Sachte umarmte sie die ältere Frau, und Louisa vergrub ihr von Kummer gezeichnetes Gesicht an Emmas Schulter. Gianni beobachtete die Szene aus einiger Entfernung. Wie brachte Emma es fertig, einer Frau, die ihre eigene Großmutter sein könnte, geradezu mütterlichen Trost zu spenden? Welches Schicksal mochte sie selbst erlitten haben, dass sie zu solchem Mitgefühl fähig war? In diesem Augenblick wäre er selbst gerne an Louisas Stelle gewesen.
Besser nicht. Er sollte ihr lieber nicht zu nahe kommen, sonst würde er ganz und gar den Verstand verlieren. Lange Zeit war er für die Reize der Frauen nicht empfänglich gewesen. Er würde auch jetzt standhaft bleiben.
„Es geht schon wieder“, schluchzte Louisa und zwang sich zu einem Lächeln. Gianni konnte sehen, welche Mühe sie das kostete. „Ich danke Gott für die letzten fünf Jahre, die ich mit Ned erleben durfte, und dazu für die zwanzig Jahre unserer Freundschaft. Er war ein wunderbarer Mensch.“
Emma drückte noch einmal ihre Schulter. „Das war er. Und er hat dich sehr geliebt. So wie wir alle. Können wir irgendetwas für dich tun?“, fragte sie mit einem Seitenblick zu Gianni, der ihn seine guten Vorsätze beinahe wieder vergessen ließ.
Emma lebte in einer gänzlich anderen Welt als er, das durfte er keinesfalls vergessen. Schon morgen würde er diesen Kontinent wieder verlassen.
„Nein, aber ich danke euch beiden, dass ihr gekommen seid.“ Louisa kam langsam wieder zu sich und verfiel prompt in einen breiten Yorkshire-Akzent. „Jetzt werde ich mit euch in den Garten hinausgehen und mir ein schattiges Plätzchen suchen. Es ist schön, dass Neds ganze Familie und alle seine Freunde gekommen sind.“
„Es sind auch deine Familie und deine Freunde“, korrigierte Emma.
„Ja, natürlich.“ Louisa seufzte tief.
Zusammen gingen sie hinaus. Emma und Gianni hatten die ältere Frau links und rechts untergehakt und führten sie zu einem Liegestuhl im Schatten eines Baumes.
Sofort war sie von Menschen umringt. Eine Frau setzte ihr ein Baby auf den Schoß, das Louisas ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Aus den Augenwinkeln sah Gianni, wie Emma zufrieden nickte.
Es gefiel ihm, dass sie so stark am Schicksal anderer Menschen Anteil nahm. Überhaupt erinnerte ihn die Atmosphäre auf dieser Trauerfeier an die Sommertage seiner Kindheit, als er und sein Bruder sich regelmäßig aus dem Haus geschlichen hatten, um mit den Kindern im Dorf zu spielen. Dort hatte er eine Fröhlichkeit und einen Zusammenhalt erfahren, die ihn für einige Stunden die Erwartungen und die Verantwortung vergessen ließen, die auf ihm selbst als Sohn einer einflussreichen Familie lasteten. Unbekümmert. Das war das richtige Wort dafür, wie er sich in Emmas Nähe fühlte. Er sollte sich wirklich zusammenreißen. Gar nicht erst darüber nachdenken, wie gut sich die zarte Haut ihrer Wangen unter seinen Fingern anfühlen mochte. „Haben Sie Lust auf ein Glas Bowle, Emma?“ Er deutete auf einen der
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