Julia Extra Band 367
seiner Kindheit?“
„Eigentlich nicht.“
„Hat er dir nicht erzählt, wie unglücklich er war?“
Lily zögerte. Es stand ihr wirklich nicht zu, Dinge zu enthüllen, die Ciro ihr im Vertrauen gesagt hatte und die überdies für seine Mutter sehr schmerzvoll sein konnten. Sowieso waren es meist nur Andeutungen gewesen, wie Stücke eines Puzzles, bei dem das Wesentliche aber noch fehlte. So war Ciro anscheinend als Kind oft allein und sich selbst überlassen gewesen – ein sehr einsamer, kleiner Junge, trotz einer Armee von Bediensteten. Und wie hätte sie Leonora D’Angelo ins Gesicht sagen sollen, dass ihr Sohn auch den einen oder anderen missbilligenden Hinweis über das Liebesleben seiner Mutter hatte fallen lassen?
„Ciro ist ein sehr verschlossener Mann“, antwortete sie deshalb ausweichend und hoffte, das Thema damit abgebogen zu haben, aber Signora D’Angelo stellte ihre Tasse wieder zurück auf den polierten, antiken Tisch, ohne daran genippt zu haben.
„Weißt du, ich bin nach seiner Geburt in eine tiefe Depression gefallen“, gestand sie unerwartet, und ihr war anzuhören, wie schwer ihr dieses Geständnis fiel.
„Nein, das wusste ich nicht“, erwiderte Lily ruhig.
„Damals wusste man noch nichts von einer ‚Wochenbettdepression‘, und man redete schon gar nicht darüber, weil es ein Tabu war. Von den Frauen in der Situation wurde erwartet, dass sie einfach weitermachten, und alles würde sich schon wieder regeln. Ich habe es versucht, wirklich, aber meine Stimmung wollte sich einfach nicht aufhellen.“ Leonora D’Angelo zögerte. „Wusstest du, dass sein Vater mich verlassen hat?“
Lily nickte etwas unbehaglich. „Er hat es erwähnt.“
Ciros Mutter zuckte die schmalen Schultern, als wäre es ihr egal. Und Lily sah plötzlich das Bild vor sich, wie sie selbst irgendwann in einer einsamen Zukunft so dasaß und mit einem Schulterzucken das Scheitern ihrer neapolitanischen Ehe erklärte. Vielleicht mit etwas zittriger Stimme, genauso wie jetzt Leonora D’Angelo.
„Unsere Ehe war nicht das, was er sich davon erwartet hatte. Er hatte eine temperamentvolle Society-Schönheit geheiratet … keine Frau, die sich morgens kaum aus dem Bett quälen konnte. Damals war es hier noch sehr ungewöhnlich, dass ein Mann Frau und Kind verließ, und nachdem er fort war, hatte ich … Angst. Ja, große Angst, allein zu sein und die alleinige Verantwortung für meinen Sohn zu tragen. Zumal ein so starker und eigenwilliger Junge wie Ciro eine Vaterfigur brauchte. Und ich schämte mich, weil ich zurückgewiesen worden war. Ich wollte einen Mann für meinen Sohn, und ja, ich wollte auch einen Mann für mich.“
„Sie müssen mir das nicht alles erzählen, Signora“, warf Lily rasch ein. Wie es in Süditalien üblich war, siezte sie ihre Schwiegermutter, ein Umstand, der ein intimes Gespräch nicht gerade erleichterte.
„Doch, das muss ich. Weil es dir vielleicht gelingt, Ciro mein Handeln zu erklären. Vielleicht hört er dir ja in einer Weise zu, wie er es bei mir nie getan hat.“
Lily presste die Lippen zusammen. Wenn sie die Wahrheit sagte – dass Ciro nicht im Traum daran denken würde, auf sie zu hören –, würde sie dann seiner Mutter nicht noch mehr Kummer zufügen? „Ich kann es ja versuchen.“
Signora D’Angelo faltete die Hände in ihrem Schoß. „Die Situation war für Frauen damals noch anders – schon gar hier in Neapel, einer sehr traditionellen, von Männern dominierten Stadt. Als verlassene Ehefrau wurde man schief angesehen, insbesondere, da alle Frauen, die ich kannte, einen Ehemann zu Hause hatten. Vielleicht war ich verzweifelt, und heißt es nicht, dass sich Verzweiflung nicht verbergen lässt?“ Sie lachte ironisch. „Wahrscheinlich habe ich deshalb nie wieder geheiratet, obwohl ich natürlich mit Männern ausgegangen bin. Ich habe sie auch mit nach Hause gebracht …“
„Signora …“
„Auf einen Drink oder einen Kaffee. Manchmal … zugegeben, nicht immer … nur um zu reden. Ich war einsam, Lily. Sehr einsam.“
Lily sah den Schmerz in Leonoras dunklen Augen und nickte. „Ja, das kann ich mir gut vorstellen.“
„Aber Ciro war schon damals so … kompromisslos. Er hasste es. Hasste diese Männer. Er wollte, dass seine Mamma wie eine Nonne lebte, und ich wollte … einfach auch Frau sein.“ Ciros Mutter schluckte. „Das hat einen Keil zwischen uns getrieben, was ich bitter bereue. Und nichts hat seither seine Einstellung zu mir gemildert,
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