Julia Extra Band 370
schöner Regelmäßigkeit wiederholenden dramatischen Vorfälle in ihrer Kindheit zurückdachte. Es widerstrebte ihr, ihm zu antworten, aber die Antwort verweigern konnte sie auch nicht. „Mein Vater hatte ein sehr großzügiges Verständnis von ehelicher Treue“, begann sie schließlich zögernd. „So großzügig, dass meine Mutter in ihrer Verzweiflung immer wieder versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Es war stets das gleiche Spiel: Erst gab es einen fürchterlichen Streit, und am Ende kam irgendwann mitten in der Nacht der Notarzt, weil meine Mutter wieder einmal Tabletten geschluckt hatte. Weil die Dosis nie tödlich war, interpretierten es die Ärzte als eine Art Hilfeschrei. Ich hatte schon eine richtige Routine entwickelt, mit meiner Mutter ins Krankenhaus zu fahren.“
Ihre schonungslose Offenheit ging ihm unter die Haut, und ihr erstarrtes Gesicht schockierte ihn mehr, als alle Tränen der Welt es gekonnt hätten. „Und irgendwann hat es dann aber doch geklappt?“
Roxy kniff die Augen zusammen. „Ich kann mich nicht erinnern, dir erzählt zu haben, dass sie tot ist.“
„Es ist nur, weil du immer in der Vergangenheitsform von ihr sprichst.“
Roxy war erstaunt, wie aufmerksam er ihr zugehört hatte. „Ihr Ende kam sehr überraschend“, erzählte sie ruhig. „Meine Eltern hatten sich gerade wieder einmal feierlich versöhnt, und meine Mutter war in ihrem Überschwang in die Stadt gefahren, um sich ein neues Kleid zu kaufen. Dabei hat sie wohl nicht aufgepasst und ist im Londoner Verkehrsgewühl direkt vor ein Taxi gelaufen. Das war’s dann.“
„Um Himmels willen, Roxy.“
„Das ist lange her“, sagte sie abwehrend. „Es tut nicht mehr weh.“ Was auch stimmte. Ihre Überlebensstrategie hatte darin bestanden, den Schmerz rigoros zu verdrängen, und geblieben waren nur die Narben. Doch damals war ihr klar geworden, dass man sich das Leben beträchtlich erleichterte, wenn man die Menschen nicht allzu nah an sich heranließ. Weil man dann nicht so leicht verletzt werden konnte. Und daran hatte sie sich gehalten. Sie hatte sich nie danach gesehnt, einem Menschen wirklich nah zu sein. Bis jetzt, ausgerechnet! Wenn sie mit Titus zusammen war, sehnte sie sich plötzlich verzweifelt nach Nähe, obwohl sie nur allzu gut wusste, dass sie damit bei ihm an der völlig falschen Adresse war.
„Und nach dem Tod deiner Mutter hat dich dein Vater allein großgezogen?“
„Nicht wirklich. Er hatte ständig wechselnde Freundinnen, die sich von mir gestört fühlten, auch wenn sie natürlich etwas anderes erzählten. Aber es war sowieso egal, weil mein Dad es nie lang mit ein und derselben Frau aushielt.“ Roxy hatte schon in der Kindheit mitbekommen, wie schlecht sich Frauen von Männern behandeln ließen, nur weil sie an die große Liebe glaubten.
Titus bemerkte den zynischen Unterton, der in ihren Worten mitschwang, und freute sich. „Dann glaubst du also auch nicht an die vielbeschworene große Liebe?“
Roxy zuckte abfällig die Schultern. „Natürlich nicht.“
„Das ist gut.“ Seine Augen glitzerten, als er nach ihrer Hand griff und sie sich zwischen die Beine legte. „Könnten wir dann jetzt endlich aufhören zu reden und uns erfreulicheren Dingen zuwenden?“
Eigentlich wäre ihr nichts lieber gewesen als das, aber plötzlich fühlte sie sich seltsam verletzlich, außerdem war es schon spät. Sie zog die Hand weg. „Es ist spät. Amy kommt bestimmt gleich.“
„Verdammte Amy.“
„Das ist aber gar nicht nett, Titus.“ Sie zögerte einen Moment, und dann sagte sie etwas, was sie schon im selben Moment bereute. „Aber ich könnte natürlich jederzeit zu dir ins Haupthaus kommen. Du musst es nur wollen.“
Es folgte eine Pause. „Du weißt, dass das nicht geht.“
„Doch, es ginge schon. Du bist schließlich der Duke. Wer sollte dir Vorschriften machen? Du willst nur nicht.“
Wollte er wirklich nicht? Er schaute ihr tief in die Augen. War es nicht vielmehr so, dass er manchmal mitten in der Nacht in seinem riesigen Baldachinbett aufwachte und sich wünschte, einfach die Hand nach ihr ausstrecken zu können? Hatte er nicht schon öfter gedacht, wie schön das Aufwachen wäre, wenn er direkt aus dem Schlaf in sie hineingleiten und seine Finger in ihre seidenweiche zerzauste Mähne schieben könnte? Aber er konnte nun mal nicht einfach machen, was er wollte, außerdem bestand die Gefahr, dass Roxanne so eine Geste falsch interpretieren könnte, und er wollte sie nicht
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