Julia Extra Band 373
Wie viele Jahre, bevor sich Hoffnung zu Hilflosigkeit wandelte, Zorn zu Duldung und der Widerstandsgeist gebrochen wurde? Wie viele Jahre, bis auch sie sich wie ihre Mutter lieber im Bett mit dem Gesicht zur Wand drehen würde, anstatt sich dem Leben zu stellen?
Hinter den geschlossenen Fensterläden schien die Sonne an einem strahlend blauen Himmel, und das Mittelmeer glitzerte in unwahrscheinlichem Blau. Für viele Menschen waren die griechischen Inseln ein Paradies. Für manche der Inseln mochte das zutreffen. Selene kannte nur diese eine, und Antaxos war alles andere als ein Paradies. Abgeschnitten von den Nachbarinseln durch gefährliche Untiefen, in denen Felsen wie die spitzen Zähne eines Monsters aus dem Meer ragten, und durch den Angst einflößenden Ruf des Eigentümers, kam Antaxos eher der Hölle als dem Himmel gleich.
Fürsorglich deckte Selene ihre Mutter mit dem kühlen Laken zu. „Überlass alles mir.“
„Mach ihn nicht wütend.“
Eine verzweifelte Warnung, die Selene schon so oft gehört hatte, dass sie es gar nicht mehr zählen konnte.
Traurig betrachtete sie ihre Mutter. Deren kühle, nordische Schönheit hatte einst die Aufmerksamkeit des reichen Playboys Stavros Antaxos erregt, und geblendet von Reichtum und Macht, war sie seinem Charme erlegen, ohne zu erkennen, was für ein Despot er eigentlich war.
Eine falsche Wahl, dachte Selene. Ihre Mutter hatte eine falsche Wahl getroffen, und die Folgen hatten dafür gesorgt, dass sie im Lauf der Jahre all ihren Lebensmut verloren hatte. „Reden wir nicht über ihn“, sagte sie aufmunternd. „Ich habe diese Woche eine E-Mail von Hot Spa in Athen bekommen. Erinnerst du dich? Das ist diese gehobene Wellness-Hotelkette mit Häusern auf Kreta, Korfu und Santorini, an die ich Proben meiner Duftkerzen und Seifen geschickt habe. Anscheinend sind die Produkte so gut angekommen, dass drei der besten Kundinnen sogar darauf bestanden haben, sie gegen Zahlung eines beachtlichen Preises mit nach Hause zu nehmen. Hot Spa bittet jetzt, dass ich bei ihnen vorspreche, weil man wegen eines größeren Auftrags verhandeln möchte. Das ist der Durchbruch, auf den ich gehofft habe!“
Doch ihre Mutter schüttelte nur den Kopf. „Er wird das nie zulassen.“
„Ich brauche nicht seine Erlaubnis, um mein Leben so zu führen, wie ich es will.“
„Und wie willst du das anstellen? Um dein eigenes Geschäft zu gründen, brauchst du doch Geld. Und das wir er dir niemals geben, weil es uns ermöglichen würde, ihn zu verlassen.“
„Ich weiß. Genau deshalb habe ich auch nicht vor, ihn zu fragen. Ich habe einen anderen Plan.“ Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte sie sich, dass die Tür geschlossen war und keiner mithörte. Obwohl sie wusste, dass er nicht einmal auf der Insel war. Aber die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass im Haus ihres Vaters sogar die Wände Ohren haben konnten. „Ich reise heute Abend ab, und sage dir das jetzt nur, weil ich mich ein paar Tage nicht bei dir melden kann und du dir keine Sorgen machen sollst. Offiziell bin ich zu meiner gewohnten Woche der Ruhe und Besinnung im Kloster.“
„Wie willst du das anstellen? Selbst wenn du es schaffst, an seinen Sicherheitsvorkehrungen vorbei die Insel zu verlassen, wird man dich erkennen. Irgendjemand wir ihn anrufen, und er wird außer sich vor Zorn sein. Du weißt doch, wie besessen er davon ist, nach außen das Bild der perfekten Familie zu wahren.“
„Ausnahmsweise ist es vielleicht einmal ein Vorteil, dass ich als Tochter dieses allseits so gefürchteten Mannes abseits von aller Öffentlichkeit lebe. Niemand erwartet, mich zu sehen, und kaum einer wird mich erkennen. Zur Sicherheit habe ich aber auch noch eine Verkleidung.“ Genaueres verriet sie nicht einmal ihrer Mutter, die sie jetzt schon Panik erfüllt ansah.
„Und wenn du es wirklich aufs Festland schaffst, was dann?“
„Keine Sorge, ich habe einen Plan. Aber du brauchst nichts davon zu wissen. Du musst mir nur vertrauen und darauf warten, dass ich zurückkomme und dich hole. Ich würde dich ja am liebsten gleich mitnehmen, aber wenn wir zu zweit reisen, erregen wir eher Aufmerksamkeit. Sobald ich das Geld und eine Unterkunft organisiert habe, hole ich dich nach.“
Ihre Mutter drückte ihre Hand. „Solltest du das wirklich schaffen, komm nicht zurück. Es ist zu spät für mich.“
„Das darfst du gar nicht erst sagen!“ Selene umarmte ihre Mutter. „Ich komme natürlich zurück, und wir gehen gemeinsam
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