Julia Extra Band 375
Zeit.“
„Das tut mir leid“, flüsterte Liz. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
„Das muss es nicht. Ich habe meine beiden Eltern schon vor langer Zeit abgeschrieben.“
Hatte er das wirklich? Sie sah sich den Ball in Charles’ Hand an. Das einzige Souvenir, das er seit einer Ewigkeit behalten hatte und von Ort zu Ort mitnahm. Sie dachte an einen jungen Charles, der an der Erinnerung eines perfekten Nachmittags festhielt, und es brach ihr das Herz.
„Wussten Sie, dass Ron einen Herzinfarkt hatte?“, fragte sie ihn. „Ich meine, vor dem, an dem er gestorben ist.“
Charles starrte in sein Martiniglas. „Das tut mir aber leid.“
„Danach hat sich sein Verhalten verändert. Die Firmenausflüge wurden aufwendiger. Wir erhielten umfangreichere Vergünstigungen. Er fing an, Golf zu spielen. Viele Leute dachten, dass er es bedauere, seinen Erfolg nicht eher genossen zu haben.“
„Worauf wollen Sie hinaus?“
„Ich weiß nicht. Ich frage mich, ob er vielleicht noch andere Dinge bereut hat.“
„Sie klingen schon wie sein Anwalt. Vielleicht wollte Ron aber auch einfach, dass jemand mit dem Namen Bishop die Firma übernimmt.“ Er leerte sein Glas, stellte das Glas ab und legte den Baseball zurück. „Wir werden ja doch nie erfahren, was Ron gedacht hat.“
In seinen Worten lag so viel Verbitterung, dass auch noch die letzte Mauer um Liz’ Herz einbrach. Sie stellte ihr Glas ebenfalls ab und trat zu ihm. Liz berührte seine Wange und strich über die kaum sichtbaren Bartstoppeln. Als sie ihn anschaute, waren seine Augen halb geschlossen und die Pupillen so geweitet, dass das Blau kaum noch zu sehen war. Langsam näherte er sich ihren Lippen.
„Ganz zwanglos“, flüsterte er ihr zu und seine Stimme war bereits tief und heiser.
„Ich weiß.“
All die anderen Küsse waren nur die Vorbereitung auf diesen einen gewesen. Liz seufzte. Der Kuss war fordernd, erbarmungslos. Er schmeckte nach Gin, nach Kühle und Hitze. Sie schlang die Arme um seinen Hals, um ihn näher zu sich heranzuziehen. Das Feuer entzündete sich wie ein Streichholz einen Berg trockener Späne. Es gab kein Zurück mehr. Das ist es, was ich in all diesen Jahren vermisst habe, dachte sie, als Charles sie auf den Boden zwischen die raschelnden Blätter legte.
Ein paar Stunden später saß Liz wieder in ihrem Auto. Ihr Körper brannte noch immer. „Bleib“, hatte Charles sie gebeten, als sie beieinanderlagen. Bei seinen zarten Berührungen hätte sie fast eingewilligt.
Doch das kann ich nicht. Ich habe einen Sohn, der zu Hause auf mich wartet. Also hatte sie sich angezogen und Charles an der Tür zum Abschied geküsst. Beim Hinausgehen hatte sie auf dem Tisch am Eingang einen Stapel Unterlagen bemerkt, der ihr vorher nicht aufgefallen war: Dokumente von Xinhua Paper, die sie daran erinnerten, wie Charles zu seinem Vermögen gekommen war. Für einen kurzen Moment hatte sie gedacht, sie würde bereuen, was eben geschehen war. Doch das konnte sie nicht.
Sie bog in die Einfahrt ihres Hauses. Bis auf einen schwachen Lichtschein im Wohnzimmer war alles dunkel. Merkwürdig. Andrew lässt normalerweise alle Lichter brennen, selbst wenn er ins Bett geht. Der Junge schaffte es ohne Weiteres, ganz allein ein komplettes Elektrizitätswerk zu beschäftigen. In der Hoffnung, nicht zu zerzaust auszusehen, überprüfte sie im Rückspiegel ihre Frisur und ihr Make-up.
Plötzlich sah sie aus dem Augenwinkel etwas, und alle anderen Gedanken waren wie weggewischt. Nein … Das kann nicht wahr sein … Doch Victorias Auto stand tatsächlich am Gehsteig vor dem Haus.
Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie werden doch nicht … Das würden sie nicht …
Mit einem Satz war sie aus dem Wagen gesprungen, ins Haus gestürmt und hatte alle Lichter im Wohnzimmer eingeschaltet, noch bevor die Eingangstür wieder ins Schloss gefallen war. Andrew sprang auf. Sein Hemd war aufgeknöpft.
„Mom! Du bist schon zu Hause! Ich hab dein Auto gar nicht gehört.“
„Das sehe ich.“ Sie klang überraschend ruhig. Auf dem Sofa versuchte Victoria gleichzeitig, sich aufzurichten und ihre Bluse nach unten zu ziehen. Andrew wollte Liz ablenken. „Vic und ich …“
„Waren gerade dabei, uns zu verabschieden“, unterbrach Liz ihn.
„Genau.“ Er streckte seiner Freundin die Hand hin, um ihr aufzuhelfen.
Stille breitete sich aus, weil die beiden zu verängstigt waren, um noch irgendetwas zu sagen. Gut so. Mit festem Schritt ging Liz in die Küche. Sie
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