Julia Festival Band 0105
fügte sie hinzu, als hätte Chessie sie an der Ausübung ihrer Pflichten gehindert. „Master Miles hat mir eine Notiz hinterlassen, das Gästezimmer herzurichten. Er erwartet offenbar Besuch.“ Sie eilte mit dem Becher in der Hand hinaus.
Chessie füllte die kolumbianische Mischung, die Miles bevorzugte, in die Kaffeemaschine. Während das heiße Wasser durchlief, holte sie die Post aus dem Briefkasten. Das Verfahren war einfach: Werbung in den Papierkorb, alle Einladungen zu Lesungen oder Vorträgen absagen, die geschäftliche Korrespondenz öffnen und mit Eingangsstempel versehen und persönliche Briefe ungeöffnet auf Miles’ Tisch legen.
Normalerweise würdigte sie die privaten Schreiben keines zweiten Blickes, doch heute fiel ihr ein teurer cremefarbener Umschlag auf, der eine eindeutig weibliche Handschrift trug. Ein ähnliches Kuvert war in der letzten Woche eingetroffen …
Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich, man könnte meinen, du wärst tatsächlich mit diesem Mann verlobt. Dabei hat sich nichts geändert. Es gibt keine persönliche Beziehung und schon gar keinen Grund zur Neugierde. Oder zur Eifersucht.
Sie legte den cremefarbenen Umschlag zu den anderen.
Als der Kaffee fertig war, trug Chessie das Tablett zum Arbeitszimmer und klopfte leicht an die Tür. Da jedoch keine Antwort erfolgte, nicht einmal das Klappern der Schreibmaschine war zu hören, öffnete sie nach kurzem Zögern die Tür und trat ein.
Nach dem Tod ihres Vaters war der Raum grundlegend verändert worden, und darüber war sie sehr froh. Die meisten Einrichtungsgegenstände waren bereits vor dem Verkauf des Hauses veräußert worden. Miles hatte seine eigenen Möbel mitgebracht und Silvertrees renovieren lassen.
Dies war einer der ersten Streitpunkte mit Jenny gewesen, die sich auch dadurch nicht hatte besänftigen lassen, dass ihr eigenes Heim völlig modernisiert wurde. Chessie hingegen hatte es richtig gefunden, dass der künftige Besitzer so viele Verbindungen zur Vergangenheit wie möglich kappte und seinem neuen Zuhause seinen Stempel aufdrückte.
Das Zimmer wirkte jetzt viel freundlicher und praktischer. In den Wandregalen standen andere Bücher sowie eine Stereoanlage und eine CD-Sammlung. Ein schweres Ledersofa nahm den Ehrenplatz vor dem Kamin ein. Der riesige geschnitzte Schreibtisch war verschwunden, da Miles lieber an einem schlichten Tisch vor dem Fenster arbeitete. Der Stuhl war allerdings eine Sonderanfertigung mit einer zusätzlichen Stütze für seinen Rücken. Normalerweise saß er um diese Uhrzeit an der kleinen Reiseschreibmaschine, die ihn an so viele Orte der Welt begleitet hatte.
„Ich dachte, Sie hätten einen hochmodernen Laptop“, hatte sie am Anfang ihrer Bekanntschaft gesagt.
„Und wie soll man die Batterien aufladen, wenn es keinen Strom gibt, Miss Lloyd?“ Er hatte mit einer sonderbar liebevollen Geste über den Rahmen gestrichen. „Sie hat meinem Vater gehört, und er hat sie mir geschenkt, als ich meinen ersten Job als Journalist antrat. Ich werde sie benutzen, bis das letzte Ersatzteil und das letzte Farbband vom Erdboden verschwunden sind. Sie ist mein Talisman.“
„Einmal hat sie Ihnen kein Glück gebracht“, hatte Chessie erwidert und an die verminte Straße gedacht.
„Wir haben es beide überlebt, oder?“
An diesem Morgen jedoch war der Stuhl leer und die Schreibmaschine unter ihrer Haube verborgen. Verwirrt stellte Chessie das Tablett ab. Sie führte Miles’ Terminkalender und wusste daher, dass er keine Verabredungen am Vormittag hatte.
Vielleicht ist er krank, überlegte sie und erinnerte sich an Jennys Bemerkung über Lebensmittelvergiftungen. Falls dieser Verdacht zutraf, hätte Miles sie jedoch sicher gebeten, einen Arzt zu rufen.
Helles Sonnenlicht fiel in das stille Zimmer. Einem Impuls folgend, durchquerte sie den Raum und spähte über die hohe Lehne des Sofas. Miles lag mit geschlossenen Augen auf den Kissen und atmete gleichmäßig. Sie umrundete die Couch auf Zehenspitzen und betrachtete ihn. Er trug noch die gleichen Sachen wie am Vorabend, ein Beweis, dass er die Nacht nicht im Bett verbracht hatte.
Im Schlaf sieht er viel jünger aus, fast verletzlich, dachte sie wehmütig. Die markanten Gesichtszüge wirkten weicher und entspannt, der feste Mund sanfter. Die Narbe war verborgen, und seine langen dunklen Wimpern warfen Schatten auf die sonnengebräunte Wange.
Chessie war verunsichert. Was sollte sie jetzt tun? Ihn wecken oder ihm den Schlaf gönnen,
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