JULIA FESTIVAL Band 97

sie unmöglich entdeckt haben, denn die Sonne spiegelte sich in den Scheiben.
    Trotzdem fühlte sie sich wie ein Voyeur. Wie ertappt stand sie eilig auf, allerdings nicht ohne vorher noch einen Blick aus dem Fenster geworfen zu haben. Als sie sah, wie Christian am Wasser stand, ging ihr Atem schneller.
    Bevor er sich in die Fluten stürzte, zog er seine Shorts aus und ließ sie hinter sich in den Sand fallen. Wie konnte er es wagen? Sie wurde immer wütender. Für wen hielt er sich eigentlich?
    Doch als Olivia kurz darauf tatsächlich endlich unter der Dusche stand, besann sie sich auf ihren gesunden Menschenverstand. Sie hatte wirklich albern reagiert. Und wenn Christian nackt schwimmen wollte, sollte er das tun. Luis würde wahrscheinlich dasselbe machen, sobald er die Gelegenheit dazu hatte.
    Allerdings war Christian nicht Luis. Und er war auch ganz anders als Tony. Sobald sie ihn ansah, wurde ihr bewusst, was für eine sinnliche Ausstrahlung er hatte.
    Und welche Gefühle er in ihr weckte …
    Wieder erschauerte sie. Ob er es ahnte? Hatte er sie vorhin vielleicht doch entdeckt und sich absichtlich ausgezogen, weil er wusste, wie empfänglich sie für seine Reize war? Und wenn ja, warum hatte er es getan? Sicher nicht, weil er sich zu ihr hingezogen fühlte.
    Bis zu jener Nacht hatte er sie kaum eines Blickes gewürdigt – oder sie zumindest nicht so angesehen, als würde er etwas für sie empfinden. Es hatte sogar Zeiten gegeben, in denen sie sicher gewesen war, dass er sie nicht leiden konnte. Vielleicht glaubte er, sie hätte Tony nur wegen des Geldes geheiratet. Mit der Meinung stand er immerhin nicht allein da.
    Außerdem waren seine Freundinnen ausnahmslos jung und schön. Julie, seine derzeitige Freundin, betete ihn genauso an wie ihre Vorgängerinnen. Tony hatte oft Witze darüber gemacht und ihr erklärt, dass die Karriere für Christian trotz aller Liebeleien immer an erster Stelle stehen würde. Deswegen hatte er sich auch bedingungslos auf ihn verlassen.
    Als sie an ihre derzeitige Lage dachte, wurde Olivia ganz elend zumute. Natürlich hätte sie einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen können. Doch ungeachtet ihrer Gefühle für Christian wäre sie dazu niemals in der Lage gewesen. Schon so lange hatte sie sich ein Kind gewünscht, und sie wollte dieses Baby unbedingt bekommen.
    Nach der Ultraschalluntersuchung in zwei Tagen würde sie erst wieder in einigen Wochen zum Arzt gehen müssen. Deshalb wollte sie den Termin auf keinen Fall verschieben – auch nicht Christians wegen. Wenn er doch nur nach Miami zurückkehren und sie in Ruhe lassen würde!

6. KAPITEL
    Dass Helen Stevens mit ihnen gemeinsam zu Mittag aß, erleichterte die Situation für Christian ungemein, obwohl sie nicht viel sagte. Ihm war klar, dass Olivia ihn hier nicht haben wollte, doch aus irgendeinem Grund weigerte er sich, die Insel zu verlassen. Auch wenn er es nicht gern zugab, aber je mehr Zeit er mit ihr verbrachte, desto mehr faszinierte sie ihn.
    Außerdem konnte er gut etwas Erholung gebrauchen und genoss es, nicht in die Firma zu gehen, zumal er per Telefon und E-Mail Kontakt zu Mike Delano hielt, der ihn sehr gut vertrat. Vermutlich wollte er die Chance nutzen und seine Fähigkeiten unter Beweis stellen, denn Tony hatte sich immer nur von Christian vertreten lassen und nie von Mike.
    Dass er es nicht eilig hatte, wieder zu arbeiten, überraschte ihn trotzdem, wenn er ganz ehrlich war. Während er über all diese Dinge nachdachte, hob er sein Weinglas und beobachtete Olivia über den Rand hinweg. Wenn sie wüsste, was ihm gerade durch den Kopf ging, wäre auch sie überrascht gewesen. Schließlich glaubte sie, sein Job wäre das Wichtigste in seinem Leben.
    Aber nicht nur Christian, auch Luis ging es gut. Wenn er nicht gerade ihn oder seine Stiefmutter aufzog, flirtete er mit der Krankenschwester.
    Am Nachmittag zog Christian sich in sein Zimmer zurück, um an seinem Laptop zu arbeiten. In der Hoffnung, etwas Schlaf nachholen zu können, legte er sich anschließend auf sein Bett. Egal, was Olivia glaubte, ihre Gastfreundschaft war für ihn nicht selbstverständlich. Und obwohl sie ihn eingeladen hatte, noch ein paar Tage hierzubleiben, wusste er, dass sie es eher für Luis getan hatte.
    Die halbe letzte Nacht hatte er darüber sinniert, warum er eigentlich hierhergekommen war und sich entschieden hatte zu bleiben. Letzteres hatte eindeutig mit den Empfindungen zu tun, die Olivias Anblick am Strand in ihm ausgelöst