Julia Gold Band 51
vergewaltigt, und sie hatte diese Erinnerung auch nicht verdrängt. Allerdings hatte sie auch nie mit jemandem darüber gesprochen.
Jalal gegenüber war sie misstrauisch wegen seiner eigenen Taten. Er hatte selbst etwas angerichtet, auch wenn er das nicht wahrhaben wollte. Trotzdem fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Doch es galt wohl kaum als unsterbliche Liebe, wenn sie ihn in ihrer Erleichterung heute Nachmittag hatte küssen wollen. Das war bloß eine verständliche, menschliche Reaktion auf eine lebensbedrohende Situation gewesen, mehr nicht.
Unwillkürlich dachte sie erneut an den aggressiven Einbrecher in Solitaire und an den Blick, mit dem er sie gemustert hatte. Wäre Jalal nicht bei ihr gewesen, wäre sie vermutlich jetzt noch seine Gefangene und wer weiß was für Schrecken ausgesetzt.
Sie hatte Jalal angesehen, wie sehr er den Mann verachtet hatte. Der Zorn, der sich in dem Hieb ausgedrückt hatte, als er mit dem Messer das Seil kappte, war erschreckend gewesen.
Sollte es eine Art Selbsthass gewesen sein? Könnte er etwas von sich in dem Mann wiedererkannt haben?
Clio schüttelte den Kopf. Der Gedanke erschien ihr abwegig.
Inzwischen stand der Mond hoch, die Moskitos machten sich bemerkbar und zu Hause würden sich die anderen schon wundern, wo sie blieb. Sie pfiff nach den Hunden und machte sich auf den Rückweg.
„As-samalu aleikum.“ Ein leises Knistern war in der Leitung zu hören.
Jalal zögerte und schaute sich in dem dämmerigen Flur um. „Aleikum as salam.“
„Du kennst meine Stimme, denke ich.“
Nach diesen Losungsworten entspannte er sich. „Es gibt Neuigkeiten?“
„Ein Gerücht ist aufgekommen.“
Er schwieg und wartete ab. Das Fenster am Ende des Flurs war weit geöffnet, aber seine Stimme würde nicht bis in die Nacht hinaus zu hören sein.
„Dem Gerücht nach bist du von den Prinzen, deinen Onkeln, ins Exil geschickt worden, und es heißt, dass dich dein Schweigen in dieser Angelegenheit das Leben kosten kann.“
Jalal stand reglos im Schatten des Flurs, während vor dem Fenster der Wind leicht durch die Bäume strich.
„Das könnte Gefahr bedeuten.“
Er lächelte. „Welcher Grund wird für meine Verbannung genannt?“
Leises Lachen erklang. „Welcher schon? Dass du gegen den Thron von Barakat intrigierst.“
„Aha.“
„Sei auf der Hut. Ma’a salam.“
„Ma’a salam“, erwiderte Jalal und legte leise den Hörer auf.
Als Clio mit den Hunden aus dem Wald kam, stürmten sie schwanzwedelnd zur dunklen Veranda und winselten vor Freude. Clio verspannte sich. Ein Schauer lief ihr über die Haut, und sie ahnte, wer sich dort auf der Veranda aufhielt.
„Dad?“, fragte sie dennoch, als sie die Treppe hinaufging.
Jalals Stimme erklang. „Er ist mit allen auf den See hinausgefahren.“
„Und du bist nicht dabei?“ Bei der Vorstellung, dass sie mit ihm allein im Haus war, erschauerte sie.
„Wie du siehst, nicht.“
Seine Stimme klang barsch, ganz anders als sonst. Die Veranda lag in völliger Dunkelheit da. Nicht einmal das Mondlicht reichte bis dorthin. Einen Fuß auf der Treppe, hielt sie inne. Fast fürchtete sie sich, in die Dunkelheit einzutauchen, wo er wartete.
Sollte er versuchen, sie erneut zu küssen, was würde sie dann machen?
Ihre Silhouette war im Mondlicht deutlich zu erkennen, als Clio nervös stehen blieb. Jalal reagierte erzürnt. Warum war sie ihm gegenüber schon wieder so misstrauisch? Er war nicht gewalttätig. Hatte er ihr das nicht erst heute bewiesen? So wäre er auch mit seinen Anhängern umgesprungen, hätte einer von ihnen versucht, ihrer Schwester etwas anzutun. Sie hätte an seinem Verhalten vorhin doch erkennen müssen, welche Kluft zwischen ihm und diesen Männern bestand, vor denen er sie geschützt hatte.
Anschließend hatte sie auf seinen Kuss gewartet, hatte sich vergewissern wollen, dass ihm nichts passiert war. Sollte sie sich dessen etwa nicht bewusst sein?
Sie hatte lange Beine, was die gestreifte Hose, die sie trug und die unter dem Knie endete, noch unterstrich. Auf alten Gemälden, die er kannte, waren Haremsfrauen in ähnlichen Hosen zu sehen. Für einen Mann war es sehr einladend, seine Zärtlichkeiten bei den zierlichen, mit Schmuck behangenen Füßen, den bloßen Fesseln und Waden zu beginnen und sich langsam hochzuarbeiten.
Er biss die Zähne aufeinander. Clio stand da und bebte. Sie selbst schrieb ihre Reaktion womöglich der Furcht zu, doch er war sicher, dass ihr Beben in Wahrheit eine gewisse
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