Julia James
gestanden. So viel Nähe musste erdrückend sein, Rosalind hatte als Kind und Teenager zu viel Verantwortung übernommen, was leicht zur Belastung hätte werden können. Doch so hatte sie es nie empfunden. Es hatte für sie nur ihre Mutter gegeben.
Geradezu verzweifelt hatte sie sich gewünscht, einen Traummann herbeizaubern zu können, der sich in ihre Mutter verliebte. Doch kein Traummann hatte sich zu dem kleinen Terrassenhaus in dem trostlosen Londoner Vorort verirrt. Sie waren allein geblieben. Rosalind hatte als Sekretärin, ihre Mutter als Verkäuferin gearbeitet.
Nie wäre Rosalind auf den Gedanken gekommen, ihre Mutter zu verlassen, denn damit wäre ihre Mutter nicht zurechtgekommen.
Und dann hatte Rosalind Barry kennen gelernt. Sie war gern ausgegangen, sie war schön, und die jungen Männer ließen sich gern mit ihr sehen. Doch keinen von ihnen hatte sie ernst genommen – bis auf Barry. Er hatte in dem Autosalon im Nachbarvorort gearbeitet und war älter und sehr viel erfahrener gewesen als sie. Und er hatte sie immer wieder bedrängt, mit ihm zu schlafen.
Mit einundzwanzig hatte sie seinen Wünschen nachgegeben. Er war nicht sehr glücklich gewesen, als er feststellte, dass sie noch Jungfrau war. Die seien im Bett langweilig, hatte er erklärt. Dennoch war er bei ihr geblieben. Dann war ihm von der Firma eine Stelle als Geschäftsführer einer Niederlassung in den Midlands angeboten worden, und er hatte Rosalind gefragt, ob sie mit ihm kommen wolle. Sogar vom Heiraten hatte er gesprochen, weil er wusste, dass sie auf so etwas Wert legte. Er war froh über die Möglichkeit gewesen wegzuziehen, weil er hoffte, sie würde sich dann endlich von ihrer Mutter lösen, die sich für seinen Geschmack viel zu sehr an die Tochter klammerte.
Ehe Rosalind ihm eine Antwort hatte geben können, war ihre Mutter zusammengebrochen. Die Diagnose Krebs hatte Rosalind erschüttert. Sie fühlte sich schuldig, weil sie so viel Zeit mit Barry verbracht und nicht gemerkt hatte, dass ihre Mutter krank war.
Dann hatte sich herausgestellt, dass der Krebs schon sehr weit fortgeschritten war. Fünfundvierzig war ihre Mutter gewesen. Und sie hatte im Leben nichts anderes gehabt als ihre Tochter.
Nach wochenlanger anstrengender Chemound Strahlentherapie war ihre Mutter abgemagert, und die Haare waren ihr ausgefallen. Aber sie hatte kostbare Zeit gewonnen.
Als der Arzt Rosalind dann mitgeteilt hatte, dass ihre Mutter möglicherweise nur noch neun Monate, bestenfalls ein Jahr leben würde, hatte Rosalind einen Entschluss gefasst.
Sie hatte das Haus, das sie und ihre Mutter gemietet hatten, und ihre Stelle als Sekretärin gekündigt und Pläne geschmiedet. Sandra, ihre Freundin, die kurz vor der Hochzeit stand, hatte sie eingeweiht. Gemeinsam hatten sie alle Möbel verkauft und relativ viel dafür bekommen. Dann hatte Rosalind ihr Sparkonto aufgelöst und ihren Kreditrahmen ausgeschöpft. Als ihre Mutter aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war alles vorbereitet. Der Flug erster Klasse nach Spanien war gebucht und ein Zimmer in einem guten Hotel in Marbella reserviert.
Ihre Mutter sollte einen Traumurlaub erleben, egal, was es kostete. Die letzten Monate ihres Lebens sollte sie genießen.
Barry hatte ihr ärgerlich erklärt, es sei dumm, so viel Geld für eine Sterbende auszugeben.
Rosalind hatte das ganze Geld wirklich ausgegeben, alles, was sie gehabt hatte. Sie hatte es nie bereut. Sie und ihre Mutter hatten einige Monate das Leben in vollen Zügen genossen, sie hatten in teuren Boutiquen eingekauft, waren in den besten Hotels abgestiegen, hatten in guten Restaurants gegessen. Und sie hatten all die Orte besucht, von denen ihre Mutter schon immer geträumt hatte.
Sie hatten eine wunderschöne Zeit gehabt. Zuletzt hatten sie die Alhambra besichtigt. Deshalb verbanden sich damit für Rosalind kostbare Erinnerungen. Danach hatte sich das Ende abgezeichnet. Ihre Mutter war in Rosalinds Armen gestorben, in dem Klosterhospiz, in dem ihre Mutter die letzten Wochen verbracht hatte.
Jetzt betrachtete Rosalind ihre kleine Tochter, die sie so sehr liebte. Finanziell würde es schwierig werden, doch das war ihr egal. Und es spielte auch keine Rolle, dass ihr Kind keinen Vater hatte. Sie hatte ja auch keinen gehabt. Es machte sie jedoch traurig, dass ihre Mutter ihr Enkelkind nicht mehr hatte sehen können.
"Ich habe sie Michelle genannt. So hieß meine Mutter", sagte Rosalind leise.
"Als ich herausgefunden hatte, wo deine Mutter
Weitere Kostenlose Bücher