Julia Quinn
vielleicht sogar zwei. Man konnte rechnen, wie man wollte – er hätte
auf keinen Fall jetzt in London sein dürfen.
»Was um alles in der Welt hast du ...« Sie stürmte in den Salon,
hielt aber inne, als sie ihn vor dem Kamin stehen sah, ein Bild der Gesundheit.
»Marcus?«
Er lächelte, und ihr schmolz das Herz –
dieses elende, verräterische Organ. »Honoria«, sagte er. »Wie schön, dich
zu sehen.«
»Du siehst ...« Sie blinzelte, konnte immer noch nicht recht
glauben, was sie sah. Er hatte wieder Farbe im Gesicht, seine Augen wirkten
nicht mehr eingefallen, und er schien wieder sein normales Gewicht zu haben.
»Du siehst gut aus«, sagte sie schließlich überrascht.
»Doktor Winters hat mich für reisefähig erklärt. Er meinte, er
hätte noch nie erlebt, dass sich jemand so schnell von einem Fieber erholt.«
»Das muss wohl am Sirupkuchen gelegen
haben.«
Sein Blick wurde warm. »Das kann gut
sein.«
»Was führt dich in die Stadt?«, fragte
sie. Sie hätte gern hinzugefügt: Da du doch kürzlich von deiner
Verpflichtung entbunden wurdest, darauf zu achten, dass ich keinen Idioten
heirate.
Gut möglich, dass sie vielleicht eine Spur
verbittert war.
Aber nicht wütend. Es hatte weder einen Zweck, noch gab es einen
Grund, zornig auf ihn zu sein. Er hatte schließlich nur das getan, worum Daniel
ihn gebeten hatte. Und es war ja nicht so, als hätte er irgendwelche echten
Liebesgeschichten hintertrieben. Honoria war in keinen ihrer Verehrer verliebt
gewesen, und wenn ihr einer von ihnen die Ehe angetragen hätte, hätte sie ihn
vermutlich abgewiesen.
Das Ganze war ihr einfach peinlich. Warum
hatte ihr niemand erzählen können, dass Marcus sich in ihre Angelegenheiten gemischt
hatte? Sie hätte sich vielleicht aufgeregt – also gut, sie hätte sich bestimmt
aufgeregt –, aber nicht sehr. Und wenn sie davon gewusst hätte, dann hätte sie
sein Verhalten auf Fensmore nicht falsch interpretiert. Sie hätte nicht
geglaubt, dass er sich vielleicht ein klein wenig in sie verliebt haben könnte.
Und sie hätte sich nicht gestattet, sich in
ihn zu verlieben.
Sie würde sich aber jetzt auf keinen Fall anmerken lassen, dass
irgendetwas nicht in Ordnung war. Offiziell war sie sich seiner Machenschaften
nicht bewusst.
Und so setzte sie ihr schönstes Lächeln auf und eine Miene, die
brennendes Interesse an allem, was er zu erzählen hatte, sig nalisieren
sollte. Bis er antwortete: »Ich wollte die musikalische Soiree nicht
verpassen.«
»Oh, jetzt
weiß ich aber, dass du schwindelst.«
»Nein, wirklich«, beharrte er. »Ich weiß ja nun von deinen
wahren Gefühlen; das wird der Sache eine ganz neue Dimension verleihen.«
Sie rollte mit den Augen. »Wohl kaum. Selbst wenn du mit mir
lachst statt über mich, kannst du der Katzenmusik doch nicht entrinnen.«
»Ich ziehe in Erwägung, mir diskret Watte in die Ohren zu
stopfen.«
»Wenn meine Mutter dich dabei erwischt, wird sie tödlich beleidigt
sein. Und das nach all ihrer liebevollen Pflege!«
Er sah sie einigermaßen überrascht an. »Sie hält dich immer noch
für begabt?«
»Uns alle«, bestätigte Honoria. »Ich
glaube, sie ist ein bisschen traurig, dass ich die letzte Tochter bin, die
auftritt. Aber der Stab wird wohl bald an die nächste Generation weitergereicht
werden. Ich habe jede Menge Nichten, die sich bereits an ihren winzig kleinen
Geigen die kleinen Fingerchen wundspielen.«
»Wirklich? Winzig kleine Geigen?«
»Nein. Es klingt nur besser, wenn man sie so beschreibt.« Er
lachte und wurde dann still. Sie schwiegen beide, standen im Salon, untypisch verlegen und, nun ja, schweigsam. Es war
merkwürdig. Es sah ihnen gar nicht ähnlich.
»Möchtest
du ein wenig spazieren gehen?«, fragte er unvermittelt.
»Das Wetter ist recht schön.«
»Nein«, sagte sie brüsker als
beabsichtigt. »Danke.«
Ein Schatten huschte über sein Gesicht und war so schnell
verschwunden, dass sie annahm, sie habe es sich vielleicht nur eingebildet. »Na
gut«, sagte er steif.
»Ich kann nicht«, fügte sie hinzu, weil sie ihn wirklich
nicht hatte verletzen wollen. Oder vielleicht hatte sie genau das beabsichtigt
und hatte nun ein schlechtes Gewissen. »Meine Cousinen sind alle da. Wir
proben.«
Auf seinem
Gesicht zeigte sich leichte Beunruhigung.
»Am besten besinnst du dich auf irgendein Anliegen, das dich weit
von Mayfair wegführt«, riet sie ihm. »Daisy hat das pianissimo noch
nicht gemeistert.« Als sie seinen verständnislosen Blick sah,
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