Julia Saison Band 05
völlig verdrängt.
„So still wie du jetzt bist, nehme ich an, dass du zwei und zwei zusammenzählen kannst“, ließ sich Cassidy vernehmen. „Ich bin ungefähr um 18:50 bei dir, je nachdem wie dicht der Verkehr ist.“
Sie beendete den Anruf und nahm ihm so die Möglichkeit, einen Rückzieher zu machen. Er liebte seine Schwester wirklich von ganzem Herzen – abgesehen von dem Teil seines Herzens, der ihren vorwitzigen Töchtern gehörte. Aber wie konnte er das tun, worum sie ihn bitten würde?
Als sich gegenüber jemand bewegte, merkte Collin, dass er immer noch im offenen Aufzug stand und wahrscheinlich so aussah, als ob er den Weg nach unten gerade im freien Fall zurückgelegt hatte. Der Wachmann Sonny beobachtete ihn belustigt von der anderen Seite der Lobby aus.
Schwach lächelnd winkte Collin kurz, klappte sein Telefon zu und drückte dann den Knopf, der ihn zu seinem Stockwerk zurückbringen würde.
Es dauerte aber fast noch zwanzig Minuten, bevor Sonny sich bei ihm meldete und Bescheid sagte, dass Cassidy angekommen war. Inzwischen hatte Collin Nicole angerufen, die Verabredung abgesagt und einen Wodka auf Eis getrunken. Whisky wäre ihm lieber gewesen, um über den Schock hinwegzukommen. Aber um diesen Abend zu überstehen, würde er mehr als einen brauchen.
Und dann war doch noch die Atemkontrolle. Cass hatte eine Nase wie ein Spürhund. Er wollte auf keinen Fall, dass sie dachte, ihre geliebten dreijährigen Töchter bei einem verantwortungslosen Trunkenbold zurücklassen zu müssen.
„Mann, wem willst du was vormachen?“, murmelte er, als er einen Blick in den Spiegel im Flur warf. Das Haar zerzaust, weil er es gerauft hatte. Die Krawatte schief, weil er daran herumgezerrt hatte.
Abkommandiert … seine kleine Schwester musste in den Krieg. Das hatte er nun davon. „Du kannst alles schaffen“, hatte er ihr versichert, als sie vor fast vier Jahren erfahren hatte, dass sie schwanger war. Der Wurm von einem Samenspender, ihr damaliger Freund und Möchtegern-Rockstar, hatte sie zu einer Abtreibung gedrängt und sich dann aus dem Staub gemacht.
Hochschwanger hatte Cassie ihre Ausbildung mit Auszeichnung bestanden. Als die Zwillinge zwei Jahre alt waren, war sie drauf und dran, die besten Helikopter für die Luftwaffe zu fliegen.
Collin schaffte es kaum, einen Linienflug ohne Übelkeit zu überstehen. Für seine kleine Schwester empfand er nichts als Bewunderung. Aber sie im Cockpit über einem Kampfgebiet? Das war einfach unvorstellbar für ihn. Ja, natürlich gab es heutzutage viele Pilotinnen. Aber was Collin anging, hatten alle Kriege vorbei zu sein, bevor Cassie an der Reihe war, ihrem Land an der Front zu dienen.
Es klopfte an der Tür. „Versuch gar nicht erst, dich zu verstecken, ich weiß, dass du da bist!“, ertönte eine fröhliche Stimme und bereitete seinem Ausflug in die Vergangenheit ein jähes Ende. Er hatte keine Wahl. Er musste sie hereinlassen. Ihm war klar, dass es ihr jetzt nicht helfen würde, ihn mit gebeugten Schultern und hängendem Kopf zu sehen. Aber mehr hatte er im Augenblick nicht zu bieten.
Doch dann sah er seine Schwester vor sich. Mit ihrem Augenzwinkern. Und dem schiefen „So ein Mist“-Lächeln. Da breitete er die Arme aus. Er war sechs Jahre älter als sie mit ihren zweiunddreißig Jahren, also im wahrsten Sinne des Wortes ihr großer Bruder. Abgesehen davon, was Intelligenz und Tapferkeit anging. Ähnlich sahen sie sich aber überhaupt nicht, sondern kamen jeweils ganz nach einem Elternteil.
Sie war eine echte blonde Schönheit, mit toller Figur und natürlichen Korkenzieherlocken, die sie jedoch am liebsten unter einem Hut oder einem Helm versteckte. Ihre Augen waren so blau, dass jeder Mann sich nach ihr umdrehte, der dazu auch nur noch ansatzweise in der Lage war.
Collin war groß und dünn und hatte mit widerspenstigem hellbraunem Haar zu kämpfen. Das Auffälligste an ihm waren seine Augen: traurig, gedankenverloren und grau. An der Schule hatte ihm der richtige Augenaufschlag mehr Strafen erspart, als gerecht gewesen wäre.
„Verdammt“, murmelte er, während er seine Schwester eng an sich drückte.
„So zurückhaltend habe ich mich nicht ausgedrückt, als ich die Neuigkeiten erfahren habe, aber wir kommen der Sache schon näher“, meinte sie.
Er ließ sie los und musterte ihr jugendliches, ernstes Gesicht. „Hast du Angst?“
„Irgendwann kommt das bestimmt. Wahrscheinlich beim Flug ins Einsatzgebiet. Aber ich hoffe mal, dass ich
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