Julia Saison Band 17
befreit zu sein!
Doch sie hatte Besseres zu tun, als herumzustehen. Fröhlich griff sie nach dem Mopp und machte sich voller neuer Energie an die Arbeit. Während sie wischte, sang sie aus voller Kehle ein altes argovisches Volkslied.
Ihr Gesang verhinderte, dass sie das Garagentor hörte. Erst als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm, verstummte sie und drehte sich um.
Caleb.
Oh Gott! Es war Caleb. Er stand in der offenen Tür zwischen Hauswirtschaftsraum und Küche, in der einen Hand seinen Koffer, in der anderen einen riesigen Blumenstrauß.
Fassungslos starrte er sie an.
Am liebsten wäre Irina gestorben. Jetzt sofort, mit dem Wischmopp in der Hand. Der weiße BH war vollkommen nass geschwitzt und bot nicht den geringsten Schutz vor Calebs Blicken. Ihre hässlichen Narben lagen frei.
Endlich fand Caleb seine Sprache wieder. „Ich … ich bin einen Tag früher nach Hause gekommen.“
Mit einem unterdrückten Schrei ließ Irina den Wischmopp fallen und rannte hinaus.
6. KAPITEL
Calebs Entsetzen verwandelte sich in Sekundenschnelle in Wut. Mehr noch – in blanken Hass. Was hatten sie ihr nur angetan? All diese Narben, hell und wulstig, auf ihrer blassen Haut. Als hätte jemand sie mit einer ganzen Salve von Nägeln beschossen. Der Schmerz musste unerträglich gewesen sein.
Er verspürte das unbändige Verlangen, die Täter mit bloßen Händen zu erwürgen. Oder sie zu Tode zu prügeln.
Achtlos ließ er die Blumen auf den Boden fallen und lief Irina hinterher. Als er die Eingangshalle halb durchquert hatte, hörte er im Obergeschoss eine Tür zuschlagen. Oben angekommen, klopfte er zaghaft an die Badezimmertür.
„Irina?“ Er gab sich Mühe, leise und ruhig zu sprechen. „Irina, bitte mach auf.“
„Geh weg! Bitte.“
„Nein“, erklärte er entschlossen. „Bitte, lass mich herein.“
Auf der anderen Seite der Tür blieb es einige Sekunden still. Fast erwartete er, dass sie ihn erneut wegschicken würde, doch dann hörte er, wie der Schlüssel sich drehte. Die Tür sprang auf, und da stand sie – aufrecht und stolz in ihrem einfachen BH und mit dem goldenen Medaillon. Sie gab keinen Laut von sich, doch über ihr trauriges, schönes Gesicht liefen Tränen. Nie zuvor hatte sie sich jemandem so gezeigt.
Mit tränenerstickter Stimme fragte sie: „Was willst du?“
Dich.
Doch natürlich sagte er das nicht. Es war nun wirklich nicht der passende Zeitpunkt für derartige Geständnisse. Leider war Caleb sich nur zu bewusst, dass jede Antwort, die er jetzt geben konnte, vermutlich die falsche war.
Und so sagte er gar nichts. Stattdessen streckte er einfach die Arme aus, auch wenn er im Grunde nicht glaubte, dass sie sein Angebot annehmen würde.
Aber wie so oft überraschte sie ihn. Mit einem Seufzer kam sie auf ihn zu und lehnte ihre Stirn an seine breite Brust. Sofort schloss er sie in die Arme.
„Hey, alles ist gut. Du bist hier in Sicherheit“, flüsterte er beruhigend.
Irina presste sich an ihn. „Oh, Caleb. Es ist mir so peinlich. Ich schäme mich so …“
„He!“ Er nahm ihr Gesicht in die Hände, damit sie ihn ansah. „Es gibt absolut keinen Grund, dich zu schämen.“
Sie schluchzte leise. „Aber … ich habe mich lächerlich gemacht.“
„Nein, das hast du nicht. Niemals.“
„Doch. Immer habe ich mich versteckt, immer meinen Körper bedeckt. Ich habe eine viel zu wichtige Sache daraus gemacht. Seit wir verheiratet sind, überlege ich, wie ich dir beibringen soll. Wie ich alles erklären kann. Und dann kommst du einfach herein und siehst mich halb nackt. So solltest du nicht erfahren. Das war dumm von mir.“
„Irina.“ Er sah sie liebevoll an und wischte ihr die Tränen von den Wangen. „Du bist nicht dumm. Du bist mutig und stark. Und eine sehr schöne Frau.“
„Ich weiß, dass es dumm ist. Ich bin zu stolz. Niemand sollte meine Narben sehen.“ Sie sah an sich herunter, sah zum tausendsten Mal ihren entstellten Körper. „Nicht einmal du. Mit der Zeit ich habe es zu meiner Gewohnheit gemacht, immer bedeckt zu sein. Irgendwann konnte ich nicht mehr anders.“
Caleb streichelte zärtlich ihr Gesicht. „Nun, jetzt habe ich deine Narben gesehen. Du brauchst sie nicht mehr zu verstecken. Es ist also alles gut.“
Ungläubig sah sie ihn an. „Gut? Und du findest es gar nicht seltsam, dass ich im BH in der Küche herumtanze und Volkslieder singe?“
„Na ja, das Ergebnis davon ist, dass du hier bei mir bist. In meinen Armen. Wenn dazu eine halb
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