JULIA SOMMERLIEBE Band 21
wegblieb.
Als er mit ihr zur Tür ging, bemerkte sie die Frau, die dort stand. Die dunklen Haare waren streng aus dem Gesicht zurückgekämmt, das nicht den geringsten Anflug eines Lächelns zeigte. Die Hände lagen vor ihrem schwarzen Kleid gefaltet. Sie zeigte keine Reaktion, als sie sah, dass ihr patron eine junge Frau zur Treppe trug.
Linda wurde von den seltsamsten Gefühlen erfasst, während sie die majestätisch wirkende Treppe hinaufgetragen wurde. Sie führte in eine Galerie, die von einem großen runden Fenster mit reich verziertem Buntglas erhellt wurde. Die würdevolle Frau in Schwarz deutete auf eine Doppeltür aus Mahagoni auf halber Strecke der Galerie. Der patron blieb stehen, während sie die Tür öffnete. Dann trug er Linda in ein großes, wunderschönes Schlafzimmer mit hohen Decken, das eher einer Prinzessin angemessen war als einer Frau, die nach Spanien gekommen war, um hier als Gesellschafterin zu arbeiten.
Als er sie wieder auf die Füße stellte, versuchte Linda, nicht darauf zu achten, dass ihre Knospen über seine muskulöse Brust strichen. Sie spürte, dass er sie ansah, ehe er sich an Adoracion wandte. „Haben Sie ein passendes Nachthemd für die senorita gefunden?“ Er sprach Englisch, als wollte er Linda dadurch zu verstehen geben, dass sie sich mühelos mit der Frau unterhalten könnte, die einen so betörenden Namen trug und dennoch so reserviert wirkte.
Adoracion deutete auf die Kleidung, die auf dem wunderschön gemusterten Bettüberwurf lag. El Khalid trat zum Bett und nahm das Negligé mit dem dazu passenden Umhang zur Hand. Fasziniert sah Linda zu, wie er mit seiner starken Hand über den hauchdünnen Stoff strich, als ob er sich ihren Körper unter dem apricotfarbenen Nichts vorstellte.
„Es sieht aus wie ein Kleid aus dem Harem“, sinnierte er.
„Mir wurde gesagt, dass es ein Nachthemd für eine junge Frau sein soll“, erwiderte Adoracion. „Ich kann sicher etwas anderes finden, wenn es dem patron nicht gefällt.“
„Die Frage ist wohl eher, ob es der senorita gefällt?“ Eindringlich sah er Linda an, die sich einzureden versuchte, dass sein Blick desinteressiert wirkte.
„Ich bin sehr dankbar, dass Sie etwas für mich gefunden haben.“
„Sie schwanken ja.“ Er legte das Nachthemd zurück aufs Bett. „Wenn Sie sich ausgeruht haben, sieht die Welt schon anders aus. Falls Sie nach dem Aufwachen Lust haben, unten zu essen, sagen Sie bitte Adoracion Bescheid. Sie wird dann ein passendes Kleid für Sie suchen.“
Er durchquerte das Zimmer, blieb an der Tür stehen und verbeugte sich mit höflicher Gelassenheit. „Erholen Sie sich gut“, sagte er. Dann fiel die Tür fast lautlos hinter ihm ins Schloss.
Linda hätte es vorgezogen, wenn Adoracion ihrem patron gefolgt wäre. Stattdessen stand sie in frostigem Schweigen da, als ob sie verärgert darüber sei, dass sie sich um eine junge Frau kümmern sollte, die nur eine companera war. Schweigend sah Linda sich in dem Zimmer um. Ob alle Räume im Kastell so groß waren wie dieses hier? Adoracions Miene nach zu schließen hätte diese sie wohl lieber auf dem Dachboden einquartiert. Zweifellos regierte sie das Personal mit eiserner Hand, in ihrer Strenge nur noch übertroffen von El Khalid selbst.
Einen Moment verlor Linda sich in dem Anblick des Zimmers. Ein durchsichtiger Baldachin hing über dem Bett, der an einer dekorativen Krone unter der Decke befestigt war. Noch nie hatte sie einen so großen Wandschrank gesehen, in den ein ovaler Spiegel eingelassen war, verziert mit Kobolden und Satyrn. Vor den Fenstern befanden sich wunderschön gearbeitete, schmiedeeiserne Gitter, durch die der Duft getrockneter Lorbeerblätter hereinwehte.
Das helle Sonnenlicht versetzte Linda einen schmerzhaften Stich in der Augenbraue, sodass sie vorsichtig mit den Fingern über die Stirn strich. Sie wollte keinesfalls um Mitleid betteln, doch ihre Geste schien Adoracion aufzurütteln.
„Ich hole Ihnen aqua de colonia , gegen die Kopfschmerzen“, erklärte sie und verließ mit raschelnden Kleidern den Raum. Für Linda klang es so, als ob sie durch Herbstlaub gehen würde.
Linda wartete noch einen Moment. Dann ging sie zur Tür, warf einen Blick in den Flur und überlegte, welche der Türen wohl ins Badezimmer führen mochte. Sie hätte gerne gebadet. Das warme Wasser würde ihre Kopfschmerzen eher lindern als der schwere Duft des Kölnischwassers.
Sie entschloss sich, das Wagnis einzugehen, ging zu einer der Türen und
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