JULIA SOMMERLIEBE Band 21
entsetzt, ihre Nichte in den Händen eines Mannes zu wissen, der unberechenbar war.
Erneut umfasste sie das kleine Herz, während sie die Galerie entlang zur Treppe ging.
3. KAPITEL
Kaum war Linda in der Eingangshalle, wurde sie von einem servidor zu dem patron geführt. Er saß auf einer sonnendurchfluteten Terrasse unter einem Torbogen, an dem üppig wachsende Bougainvilleen rankten. Als sie zum Tisch trat, erhob er sich, gekleidet in Reithosen und einem weißen Seidenhemd.
„ Buenos dias, senorita .“ Er wartete, bis sie sich gesetzt hatte, dann nahm er auch wieder Platz. „Sie sehen aus, als ob der Schlaf Wunder bei Ihnen vollbracht hätte. Haben Sie noch Kopfschmerzen?“
„Nein, senor “, erwiderte sie. „Der Schlaf heilt vieles.“ Angespannt saß Linda da, während ihr ein englisches Frühstück mit Bacon, Würstchen und gegrillten Tomaten serviert wurde. Dazu gab es goldgelben, knusprigen Toast, frisch aufgebrühten Kaffee und klaren Honig. Alles sah sehr appetitlich aus.
Nachdem Linda ihren ersten Hunger gestillt hatte, sah sie von ihrem Teller auf und bemerkte, dass der patron an seinem Kaffee nippte und sie prüfend betrachtete. „Adoracion hat also ein passendes Kleid für Sie gefunden“, meinte er.
„Ja.“ Seine Bemerkung schien sie zu der Frage aufzufordern, die ihr auf der Seele brannte. „Konnten Ihre Männer meine Habseligkeiten retten? Vor allem meine Handtasche?“
„Das Meer ist leider sehr gefräßig“, entgegnete er.
„Wollen Sie damit sagen …“ Enttäuschung machte sich in ihr breit.
„Ich fürchte ja, senorita .“ Ergeben hielt er die gespreizten Hände hoch. „Aber was ist schon eine Handtasche oder ein paar Papiere, wenn Sie noch das ganze Leben vor sich haben?“
„Ja, sicher.“ Sie errötete, weil er ihr das Gefühl gegeben hatte, undankbar zu sein. Für einen schmerzlichen Augenblick fühlte sie sich wieder wie als Kind, das von seiner Tante ständig daran erinnert wurde, dankbar zu sein, weil es Verwandte hatte, die sich statt der Eltern um sie kümmerten.
„Eigentlich heißt das doch“, sie nahm einen großen Schluck Kaffee, „dass ich kein Recht habe, mich in Spanien aufzuhalten, ohne meinen Ausweis und das Visum.“
„Sie haben es auf den Punkt gebracht.“ Er versuchte nicht einmal, auf ihre Gefühle Rücksicht zu nehmen. „Sie sind jetzt ein Nomade, wie wir in der Wüste sagen. Eine Heimatlose ohne einen einzigen Penny.“
Linda starrte ihn über den Tisch hinweg an und hoffte, zumindest einen Anflug von Mitgefühl in seinem Blick zu entdecken. Doch seine Augen waren dunkel und undurchdringlich und machten ihr verzweifelt die Warnung ihrer Tante bewusst, dass sie nur von Fremden umgeben sein würde, die ganz anders waren als sie.
„Dona Domaya weiß, dass ich hier bin“, sagte sie mit einem Hauch von Panik in der Stimme. „Sie und ihr Bruder werden sicher für mich einstehen …“
„Zweifellos, senorita , wenn sie hier wären. Aber Don Ramos sah sich gezwungen, seine Schwester wieder in die Klinik in San Lopez zu bringen. Sie ist vor ein paar Wochen dort entlassen worden, weil man hoffte, sie sei von ihrer Depression geheilt. Leider hat sich ihr Zustand während eines Urlaubs in England wieder verschlechtert. Ein Facharzt für Psychiatrie hat sie untersucht. Gestern Nachmittag kam eine Nachricht vom granja . Ramos war sehr besorgt und meinte, es wäre das Beste, wenn sie sich einer weiteren Behandlung unterzieht.“
Die trostlose Aussicht ließ Linda zusammenfahren, obwohl die spanische Sonne sie mit ihrer Wärme verwöhnte. Bienen summten in den prächtigen Bougainvilleen, und ein strahlend bunter Vogel hüpfte von einem Ast zum anderen. Eine Idylle – und trotzdem hatte sie das Gefühl, als ob etwas Drohendes, Dunkles sich auf sie zu bewegte.
„Möchten Sie ein bisschen Obst?“ Die tiefe Stimme riss sie aus ihren Grübeleien. „Die Nektarinen hier sind besonders süß und saftig. Eine viel sinnlichere Frucht für den Garten Eden als der Apfel, der Eva in Versuchung führte. Was meinen Sie, senorita ?“
In Lindas Blick flackerte Angst auf. Ob er ihre Gedanken lesen konnte, oder war seine Fähigkeit nur auf seine Erfahrung zurückzuführen? Ein Mann wie er kannte sicher viele Frauen. Vermutlich hätte er keine Schwierigkeiten, ihre, Lindas, Gedanken zu lesen, die sich viel besser mit einem Cellobogen auskannte als mit den Beweggründen der Männer.
„Und was ist mit Pepita?“, fragte sie.
„Das Kind ist mit ihrer Mutter
Weitere Kostenlose Bücher