JULIA SOMMERLIEBE Band 21
Kontrolle zu verlieren und zu vergessen, warum sie tatsächlich verheiratet waren.
Mit ihrem Jawort hatte sie eine Schuld beglichen und gleichzeitig dem kranken Mann ihrer Cousine ein erträgliches Leben ermöglicht. Nicht mehr und nicht weniger.
Lorenzo hatte in die Ehe eingewilligt, weil er sich seiner Familie gegenüber verpflichtet fühlte. Und er fühlte sich an das Versprechen gebunden, das er seiner Mutter am Sterbebett gegeben hatte. Das war alles. Mit Liebe hatte diese Heirat nichts zu tun.
„Warum hast du mir das angetan?“, flüsterte sie und dachte an Lorenzos Mutter, ihre Patentante. „Warum hast du uns beide ins Unglück gestürzt?“
Bisher hatte sie geglaubt, Lorenzos Angebot, sie zu nichts zu drängen, wäre nur ein Zeichen seiner Gleichgültigkeit gewesen. Mittlerweile wusste sie nicht mehr, was sie noch denken sollte.
Denn vielleicht hatte Julia recht und es war möglich, dass er bereit war, die Situation auszunutzen. Dass er in ihrer Unschuld vielleicht den Reiz des Neuen sah – nach all den Liebschaften mit glamourösen, erfahrenen Frauen, die er bisher genossen hatte –, und dass er das Beste aus der Situation machen wollte.
„Aber ich kann das nicht“, wisperte sie. Und was seinen Vorschlag anging, sich langsam an die Vorstellung zu gewöhnen, ihm näherzukommen – das würde nicht funktionieren. Niemals.
Ein erfahrener Liebhaber. Die Art, wie Lorenzo sie berührt hatte, hatte ihr eine Ahnung vermittelt, was er für Forderungen haben würde. Sie war unerfahren. Zwischen ihnen konnte es nicht gut gehen. Und sicherlich wäre er ihre sexuelle Unerfahrenheit schon sehr bald leid.
Sie hatte versucht, ihre Ängste herunterzuspielen. Alles, was er will, ist ein Kind, hatte sie sich erinnert, einen Sohn, der den Namen Santangeli und den Familienbesitz erben würde. Vielleicht musste sie auf seine gute Erziehung vertrauen und darauf, dass alles … Notwendige anständig und zivilisiert über die Bühne gehen würde.
Doch als Lorenzo zum ersten Mal versucht hatte, sie zu küssen, hatte sich dieser Vorsatz in Luft aufgelöst, und sie war in Panik geraten.
Ich hatte auch allen Grund dazu, verteidigte sie sich. In der Nacht ihres neunzehnten Geburtstags hatte sie sich gefragt, ob Lorenzo nicht vielleicht doch mehr von ihr wollte als willenlose Unterwürfigkeit – und diese letzte halbe Stunde hatte ihre schlimmsten Befürchtungen einmal mehr bestätigt. Nur deshalb war sie handgreiflich geworden.
Unser Verhältnis war schon immer schwierig, entsann sie sich. Er war für sie immer unerreichbar gewesen, ein erwachsener Mann, der sein eigenes Luxusleben führte und sich nur gelegentlich mit ihr abgab, um ihr Schwimmen beizubringen oder ihr eine Trainerstunde auf dem Tennisplatz zu geben. Vermutlich hat er auch das nur seiner Mutter zuliebe getan, schoss es ihr durch den Kopf.
Als sie älter wurde, hatte sie sich sehnlichst gewünscht, dass er sie als Frau und nicht mehr als Kind sah. Eines Tages hatte sie absichtlich ihr Bikinioberteil „verloren“, als sie mit ihm im Swimmingpool geschwommen war. Doch er hatte sie nur mit eisiger Verachtung gestraft.
„Wenn du glaubst, du könntest mir imponieren, indem du dich wie ein Flittchen benimmst, hast du dich getäuscht, Maria Lisa.“ Sein Tonfall war ihr unter die Haut gegangen. „Du bist viel zu jung, um hier die Verführerin zu spielen. Also geh und zieh dir etwas an.“
Verzweifelt und beschämt war sie ins Haus geflüchtet und hatte sich selbst dafür verachtet, ihre Gefühle ehrlich offenbart zu haben und so offen abgelehnt worden zu sein.
Als ihre Aufenthalte in der Toskana irgendwann unregelmäßiger geworden waren, war sie erleichtert gewesen. Und dass sie und Lorenzo einander versprochen waren, hatte sie als sentimentales Gerede abgetan und nicht länger beachtet.
Sie hatte ihn einfach nie mehr wiedersehen wollen.
Wenn sie nun darüber nachdachte, musste sie zugeben, dass sie sich schon vor dem Zwischenfall im Swimmingpool manchmal recht unangemessen benommen hatte.
Aber wenn Lorenzo sie nie ernst genommen und ihr Verhalten als blamabel empfunden hatte, warum hatte er sich dann nicht dagegen gewehrt, mit ihr verheiratet zu werden?
Ihm musste doch klar gewesen sein, dass diese Ehe niemals gut gehen konnte.
Doch vielleicht war es nie sein Ziel gewesen, mit ihr eine glückliche Ehe zu führen. Möglicherweise hatte er einfach den Wunsch seiner Mutter erfüllen wollen. Die Ehe war nicht mehr als ein Geschäft und ihr Körper
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