JULIA SOMMERLIEBE Band 21
Augen.“
Herrje, gerade das hoffte sie nicht! Er sollte nicht in ihrem Blick ihre Gedanken erkennen. Schnell blinzelte Vivian, um jeden Ausdruck aus ihren Augen zu entfernen. Wieder erzitterte sie unter der Intensität seiner Betrachtung. Wonach suchte er nur? Sie konnte sich keinen Reim darauf machen.
„Ist Ihnen kalt?“
„Nein.“ Bestürzt stellte sie fest, wie atemlos diese Antwort geklungen hatte.
Er ließ seine Hände auf ihre verspannten Schultern gleiten, dann strich er sachte über die Außenseite ihrer Arme hinab zu ihren verkrampften Fäusten.
„Das müsste es aber, nachdem Sie auf diesem windigen alten Boot unterwegs waren“, widersprach er ihr. „Ihre Hände sind so kalt wie Eis und Sie zittern. Sie brauchen eine Kleinigkeit zu essen, damit Ihnen wieder warm wird.“
Sie räusperte sich. „Ich versichere Ihnen, dass ich nicht friere“, entgegnete sie und entwand ihm ihre Hände. „Und ich habe keinen Hunger.“
„Ist Ihnen die Reise auf den Magen geschlagen?“, murmelte er und zog seine dunkelbraunen Augenbrauen fragend nach oben. Die Braue über der Augenklappe war durch die Narbe etwas unförmig, stellte sie fest.
„Glauben Sie bloß nicht, dass die Rückfahrt mit leerem Magen einfacher wird. Es wird Ihnen viel besser gehen, wenn Sie etwas gegessen haben.“
Ich habe Appetit auf etwas ganz anderes. Dieser abwegige Gedanke schoss ihr so schnell durch den Kopf, dass sie nicht dagegen ankämpfen konnte. Vivian spürte, wie sie rot wurde.
Er blieb ruhig stehen und betrachtete neugierig ihr leuchtendes Gesicht und die vor Schreck weit aufgerissenen grünen Augen. Mit einem Hauch von Schuld und Verwirrung wich sie seinem Blick aus, das spürte er. Was in aller Welt war nur los mit ihr?
Seine Miene wurde völlig ausdruckslos. Dass sie schwieg, wertete er als Zustimmung.
„Gut, dann leisten Sie mir beim Mittagessen Gesellschaft …“
„Vielen Dank, aber das Boot legt wieder ab in …“ Vivian sah auf ihre Armbanduhr. „In zwanzig Minuten. Und ich muss ja noch hinunter zum Landeplatz wandern.“
„Der Kapitän legt erst ab, wenn er das vorher mit mir abgesprochen hat.“ Mühelos entkräftete er ihre Vorwände.
„Ich habe wirklich keinen Hunger …“
„Und wenn ich sagen würde, ich hätte seit gestern Mittag nichts gegessen und wäre zu ausgehungert, um mich auf etwas anderes zu konzentrieren?“
Ausgehungert wonach?, dachte Vivian und wägte schweigend ihre Möglichkeiten ab, seine Einladung abzulehnen.
„Ich würde Guten Appetit sagen“, gab sie seufzend nach. Vielleicht war er ja mit vollem Magen umgänglicher?
„Und hoffen, dass ich lieber an Nahrungsmitteln knabbere als an Ihnen?“, bemerkte er anzüglich und kam damit ihren verirrten Gedanken ziemlich nahe.
„Das wäre mir tatsächlich sehr recht“, bestätigte sie steif.
„Während ich etwas Leichtes für Sie und etwas Sättigendes für mich zubereite, könnten Sie doch die Unterlagen hervorholen, damit ich sie anschließend durchsehen kann.“
Durchsehen hieß nicht gleich unterzeichnen, aber Vivian beeilte sich, seiner Aufforderung nachzukommen, während er fort war. Er hatte die Tür hinter sich zugezogen und öffnete sie bei seiner Rückkehr so behutsam, dass sie ihn erst wahrnahm, als er sich über sie und den Schreibtisch beugte. Sofort spürte sie seinen heißen, verlangenden Atem an ihrem Nacken.
„Sie bewegen sich sehr leise …“, setzte sie atemlos an. Ein schwacher Protest gegen seine überraschende und beunruhigende Nähe.
„Für einen Krüppel?“ Er beendete ihren Satz mit beißendem Spott.
„Das wollte ich nicht sagen!“, fuhr sie auf. Sie spürte, dass Mitgefühl das Letzte war, was er von ihr erwartete.
„Sie wollten einen freundlicheren Ausdruck verwenden?“, höhnte er. „Invalide? Körperbehindert?“
Mit einem Mal spürte sie eine unbändige Wut in sich aufsteigen. Wie konnte er es wagen zu denken, dass sie so gefühllos, ja, so dumm wäre, ihn zu verspotten? Ganz egal, wie sehr er sie provozieren mochte!
„Sie bewegen sich sehr leise für so einen großen Mann! Das wollte ich sagen, bevor Sie mich so rüde unterbrochen haben“, fauchte sie ihn an. „Sie sind ausgesprochen dünnhäutig, wenn ich das sagen darf. Ich war schließlich auch nicht beleidigt, als Sie mich darauf hingewiesen haben, dass ich so blind wie eine Fledermaus bin, oder? Ich mag ja zwei unbeschädigte Beine haben, aber ich scheine sie dennoch nicht richtig koordinieren zu können! Als kleines
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