Julia Sommerliebe Band 22
geistesabwesende Betrachten seiner Hände hatte ihr die Röte ins Gesicht getrieben. Die Farbe wich nicht, als sie seine aristokratischen Züge studierte. Nach einer kurzen Pause lachte sie. „Entschuldigen Sie bitte. Das war eine dumme Frage.“
„Sayed hat mir erzählt, dass Sie ihm eine Menge kluger Fragen gestellt haben.“
„Ach, hat er das?“ Um nicht den Eindruck zu erwecken, dass sie Rafik gefallen wollte, vermied sie es, zu lächeln, und runzelte stattdessen die Stirn. „Das ist die beste Methode, um ehrliche Antworten zu bekommen.“
„Ich werde versuchen, direkt zu sein.“ Rafik machte eine einladende Bewegung. „Würden Sie jetzt gern zu Mittag essen?“
Gleichgültig zuckte Gabby mit den Schultern und wandte sich in die Richtung, in die er gezeigt hatte. Dabei geriet das Porträt, welches ihr schon beim Betreten der Bibliothek aufgefallen war, in ihr Blickfeld. Aus der Nähe betrachtet war die porträtierte Frau noch atemberaubender.
„Wer ist das? Oder war das?“, fragte Gabby, während sie die dunkelhaarige Schönheit fasziniert betrachtete. Ihre Haut schien zu leuchten, und ihre Augen waren blau wie die Saphirkette, die sie um den Hals trug.
„War. Königin Sadira.“
Gabby ließ ihren Blick vom Bild zurück zu Rafik schweifen; er sah nicht das Bild an, sondern sie. „Ihre Mutter?“
„Nein, sie war die erste Frau meines Vaters. Die Liebe seines Lebens.“
Gabby dachte, dass es sicher nicht besonders angenehm war, wenn die große Liebe des eigenen Ehegatten ständig auf einen hinabsah, und drehte sich wieder zum Porträt hin.
„Aber er hat auch Ihre Mutter geliebt.“
„Nein. Ich glaube, er hatte sie sehr gern, und er hat sie respektiert. Aber diesen … Wahnsinn erlebt ein Mann nur einmal im Leben.“
Als Gabby sich ihm wieder zuwandte, sah sie, dass er näher gekommen war. Von seiner männlichen Ausstrahlung wurde ihr ganz flau im Magen.
„Er hat sie nicht geliebt?“ Seine nüchterne Schilderung schockierte sie.
„Sie klingen so empört“, bemerkte er. „Doch dazu besteht kein Anlass. Nicht meiner Mutter wegen, jedenfalls. Sie hat meinen Vater nicht geliebt, jedenfalls nicht auf eine romantische Art. Natürlich hat sie ihn respektiert, und sie hatten übereinstimmende Vorstellungen, wie dieses Land regiert werden sollte. In dieser Hinsicht waren beide waren sehr pflichtbewusst und hingebungsvoll.“
Das haben sie wohl auch an ihren Sohn weitergegeben, dachte Gabby und betrachtete sein Gesicht. Ihr Sohn Rafik dachte nicht einmal jetzt, wo er sterben würde, darüber nach, was das für ihn selbst bedeutete, sondern machte sich nur Sorgen, was aus seinem verdammten Land wurde. Sie spürte Wut in sich aufsteigen. Der arme Mann hatte nie eine Wahl gehabt.
Warum sollte man also von ihm erwarten, solch ein großes Opfer zu bringen?
„Die Ehe meiner Eltern war eine erfolgreiche Verbindung.“ Rafik ärgerte sich, dass seine Worte wie eine Rechtfertigung klangen. „Als sie heirateten, befand sich das Land im Ausnahmezustand. Meine Mutter war meinem Vater eine große Stütze, als er all das wieder in Ordnung brachte, was er in den Jahren nach Sadiras Tod vernachlässigt hatte.“
„Und … Sie halten Liebe für eine Art von Wahnsinn?“ Sie betrachtete Rafiks geschwungene Lippen und fragte sich, ob er diesen Wahnsinn jemals erlebt hatte.
Sein Blick wanderte zu dem Bild. „Als sich herausstellte, dass Sadira keine Kinder bekommen konnte, erwartete man von meinem Vater, dass er sie verließ. Doch er blieb bei ihr, obwohl das Ausbleiben eines Thronfolgers in der Bevölkerung zu erheblichen Unruhen geführt hat.“
Gabby empfand großes Mitleid mit der unglücklichen Königin. „Sind Sie der Ansicht, dass er sie hätte verlassen sollen?“
Er zuckte mit den Schultern. „Mein Vater hat sein Herz und nicht seinen Verstand sprechen lassen.“
„Was heißt das? Ja oder nein?“ Was für eine dumme Frage! Aus Rafiks Verhalten war klar ersichtlich, dass er seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse den Verpflichtungen seinem Land gegenüber unterordnete. Das Pflichtbewusstsein war ihm von klein auf anerzogen worden. Er hatte nie ein sorgloses Kind oder ein draufgängerischer Jugendlicher sein dürfen, sondern war immer der Thronfolger gewesen, der auf seine zukünftige Rolle vorbereitet wurde.
„Als König trägt man viel Verantwortung.“
„Die arme Frau. Sie war so schön …“ Obwohl Gabby wieder das Porträt ansah, war ihr die Anwesenheit des Mannes neben ihr
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