Julia Sommerliebe Band 22
sagen sollte, hatte sich aber dagegen entschieden. Es hätte keinen Sinn gehabt. Warum sollte sie ihm Schuldgefühle verursachen – falls er ihr überhaupt glauben würde?
„Dieser Mister Parker hat mir aber etwas anderes erzählt. Er meinte, du seiest Wonder Woman, eine echte Heldin.“
„Das hat er nicht gesagt.“
„Nein“, gab Paul zu und betrachtete sich im Spiegel. „Ich glaube, ich werde den Bart behalten“, überlegte er laut und strich mit der Hand über sein spärlich behaartes Kinn. Er wandte sich Gabby zu. „Was meinst du?“
„Lieber nicht.“
Paul seufzte. „Wahrscheinlich hast du recht. Die Weiber mögen keine Gesichtsbehaarung.“
„Musst du dieses Wort benutzen?“, fragte Gabby gereizt.
„Solange ich dich damit ärgern kann, ja.“
Gabby verdrehte die Augen. „Also, was hat Mister Parker denn nun wirklich über mich gesagt?“
„Es geht immer nur um dich, was?“, neckte Paul sie. „Also, jetzt mal im Ernst: Der Typ dachte, dass du Freunde an höherer Stelle hättest, aber ich habe das richtiggestellt. Allerdings habe ich mich doch gewundert, als ich den Wagen gesehen habe, mit dem sie mich abgeholt haben. Den hättest du sehen müssen! Fast sechs Meter lang, und innen …“ Er pfiff anerkennend und schüttelte den Kopf. „Aber dann habe ich begriffen.“
„Ja?“
Er nickte. „Ja. Sie wollen mir Honig um den Bart schmieren.“
„Meinst du?“
„Ich bin mir ganz sicher.“
Gabby schüttelte den Kopf und sah ihn verwirrt an.
„Meine Güte, Gabby, du bist manchmal wirklich schwer von Begriff. Sie sind besorgt um ihr Image in der Öffentlichkeit. Und … oh, ist das Schokolade?“ Abwesend griff er nach einer Tafel Schokolade, die aus Gabbys Handtasche gefallen war.
Paul imitierte einen Trommelwirbel und sagte feierlich: „Meine erste Mahlzeit als freier und rehabilitierter Mann.“ Er steckte ein großes Stück in den Mund, verdrehte genüsslich die Augen und stöhnte. „Himmlisch!“, sagte er und machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr. „Die Sache ist die: Sie haben Angst, dass ich wegen Freiheitsberaubung gegen sie vor Gericht gehe.“
Gabbys Augen weiteten sich vor Schreck. „Du hast doch hoffentlich nichts dergleichen vor, oder?“, fragte sie besorgt.
„Keine Sorge, ich will einfach nur nach Hause.“
Erleichtert ließ Gabby ihre Schultern nach vorne fallen. „Dein Flug geht heute Abend um halb sieben.“
„Um halb sieben schon? Dann bleibt mir ja kaum noch Zeit, um den Zimmerservice zu nutzen!“ Er ließ sich auf das nächste Sofa fallen. „Du hast ein Wunder bewirkt, Schwesterherz.“ Plötzlich wurde er ernst. „Wie geht es Mum und Dad?“
„Nachher kannst du sie selbst fragen.“
„Es war sicherlich hart für sie.“
Sie nickte. „Aber sie haben sich wacker gehalten.“
„Gibt es hier Kabelanschluss? Meinst du, ich kann das Spiel sehen?“
Gabby dachte daran, welche Ängste sie seinetwegen durchgestanden hatte, und sah Paul mit einer Mischung aus Belustigung und Verzweiflung an. Noch vor Kurzem hatte er etwas durchlebt, was andere Menschen zutiefst verstört und ihnen einen Schreck fürs Leben eingejagt hätte, und alles, woran er jetzt dachte, war ein Fußballspiel. Und auch daraus machte er kein Drama.
Sicherlich ist es angenehm, dachte sie wehmütig, derartig unbekümmert durchs Leben zu gehen. „War es sehr schlimm, das Gefängnis?“, erkundigte sie sich. Wie üblich fühlte sie sich wie seine Erziehungsberechtigte, obwohl er sechs Jahre älter war als sie.
Paul begann sich durch die Programme zu schalten und legte die Fernbedienung beiseite, als er einen Zeichentrickfilm gefunden hatte, von dem er sagte, es sei seine Lieblingssendung.
„Ich kann verstehen, wenn du nicht darüber reden möchtest.“
„Sei lieber nicht so mitfühlend, Gabby, das ist schlecht für den Blutdruck. Ich habe keine posttraumatischen Störungen oder Traumata. Was soll ich sagen? Gefängnisse sind ja nicht dazu gemacht, schön zu sein. Aber es war nicht so schlimm, wie es hätte sein können, und ich wusste, dass ich da wieder rauskomme. Erstens war ich unschuldig, und zweitens habe ich mir schon gedacht, dass jemand an der Sache dran ist.“ Paul strahlte seine Schwester an.
Gabby staunte darüber, wie er seinen Gefängnisaufenthalt ebenso locker wegsteckte wie alle anderen unerfreulichen Dinge, die ihm in seinem Leben zugestoßen waren. Ihr Bruder schien nahezu unverwüstlich.
„Du siehst anders aus.“
„Findest du?“, fragte Gabby,
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