Julia Sommerliebe Band 24
dringen.
„Dann verstehe ich, dass du nervös bist. Keine Angst, es wird alles gut gehen.“
„Darauf will ich lieber nicht vertrauen. Wir müssen sie von hier wegbringen.“ Harrys Gesicht war wie versteinert. Sie hatte keine Ahnung, was in ihm vorging, aber es blieb keine Zeit, um es herauszufinden.
„Ohne ihren Mann wird sie nicht ins Krankenhaus gehen. Abgesehen davon ist es dafür schon zu spät.“
„Es ist nicht zu spät. Ich bin doch kein Idiot. Lass uns gehen.“
Sie packte ihn am Arm. „Harry. Jetzt hör mir mal zu“, zischte sie leise, damit die Frauen sie nicht hören konnten. „Willst du riskieren, dass sie das Kind unterwegs in einem klapperigen Bus bekommt?“
Sie sah das Flackern in seinen Augen, als er begriff, dass er den Lauf der Dinge nicht mehr aufhalten konnte. Nervös fuhr er sich mit beiden Händen durchs Haar und kniff die Augen zusammen. „Du hast recht. Ich habe für einen Moment die Beherrschung verloren. Es tut mir leid.“
„Du musst etwas Schlimmes erlebt haben“, sagte sie mit sanfter Stimme. „Kann ich dir irgendwie helfen, Harry?“
„Nein.“ Sie konnte fast hören, wie in seinem Inneren eine Tür zufiel. „Sag mir einfach, was ich tun soll.“
Das war immerhin ein Fortschritt. „Ohne Ausrüstung können wir nicht viel mehr tun als ihr beizustehen. Vielleicht könntest du etwas heißes Wasser besorgen, damit ich später ein Messer und ein Stück Faden sterilisieren kann, um die Nabelschnur zu versorgen.“
Bonnie tastete nach der kleinen Gürteltasche, die sie immer bei sich trug, und zog ein Fläschchen mit Händedesinfektionsmittel hervor. „Oder ich benutze das hier.“
„Was ist mit Medikamenten?“
Bonnie hob gelassen die Schultern. „Wir haben keine, und wenn wir Glück haben, braucht Mardi auch keine. Sie ist eine junge, gesunde Frau. Ihr Körper wird sie nicht im Stich lassen.“
Harry hob die Hände in einer resignierenden Geste. „Schon gut. Ich wollte es nur erwähnt haben.“
„Du könntest aber etwas anderes für mich tun. Bitte erkläre Mardi und Nyomen in ihrer Sprache, dass ich ausgebildete Hebamme bin und gerne hierbleiben möchte, um sie zu unterstützen. Das Wichtigste ist, dass sie nicht in Panik geraten.“
„Wird gemacht“, seufzte er. „Zu mehr bin ich ohnehin nicht zu gebrauchen.“ Den letzten Satz sagte er so leise, dass Bonnie ihn gerade noch verstehen konnte.
Er sprach kurz mit den beiden Frauen, die eifrig nickten und erleichtert dreinblickten. Harry wandte sich wieder an Bonnie, sein Gesicht undurchdringlich. „Dann kümmere ich mich jetzt um Wasser und Faden.“
Mardi begann erneut zu stöhnen, und Nyomen winkte Bonnie herbei. Sie hatte ihrer Schwägerin ein Lager am Boden bereitet und einige alte Sarongs bereitgelegt.
Bonnie setzt sich neben sie, desinfizierte ihre Hände und bot auch Nyomen das Fläschchen an. Dann lehnte sie sich mit dem Rücken an die Wand und faltete die Hände im Schoss. Für den Augenblick konnten sie nichts tun als abzuwarten.
Als Harry mit Wasser und Faden zurückkehrte, sah er, dass mittlerweile auch die Großmutter angekommen war und die Frauen vor dem Lager einen weiteren Sarong als Sichtschutz aufgespannt hatten. Diskret zog er sich ins untere Stockwerk zurück und vergrub sein Gesicht in den Händen.
An jedem anderen Ort der Welt wäre er lieber gewesen. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt – nicht gerade die Reaktion, die man von einem Arzt erwarten würde. Und aus eben diesem Grund hatte er der Medizin den Rücken gekehrt.
Irgendwie hatte Bonnie es fertiggebracht, ihn davon abzuhalten, Mardi in die Klinik zu verlegen. Wobei es tatsächlich nicht besser gewesen wäre, das Kind auf einer staubigen Landstraße mitten im Nirgendwo zur Welt zu bringen.
Auf einmal ertönte aus dem oberen Stockwerk der unverkennbare Schrei eines Neugeborenen. Harry schreckte auf. Dann hörte er das beruhigende Murmeln der Frauen und sogar ein Lachen. Eine Welle der Erleichterung durchfuhr ihn. Die ganze Situation war ihm stärker zu Herzen gegangen, als ihm lieb war. Fast hätte er sich zu einer unüberlegten Handlung hinreißen lassen. Vielleicht war es Zeit, sich einzugestehen, dass er nicht für immer vor seiner Vergangenheit fliehen konnte.
Dann verwandelte sich seine Erleichterung plötzlich in ein unerwartetes Gefühl von Stolz. Stolz auf die tapfere Mardi, auf die resolute Bonnie und ein bisschen auch auf sich selbst, weil er am Ende doch ihrem Urteil vertraut hatte.
In diesem
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