Julia Sommerliebe Band 24
unter diesen Umständen lieber nicht behalten.“ Sie ließ das winzige Baby in seine ausgestreckte Hand gleiten. „Ich verstehe nicht, wie du mich so behandeln konntest.“
Er hörte die Verzweiflung in ihren Worten und schloss seine Finger fest um die Kette. „Damals vor zwei Jahren konnte ich meine Frau und unser ungeborenes Kind nicht retten. Deshalb kann ich nicht mehr Arzt sein. Es fällt mir schwer, darüber zu reden.“
„Vielleicht solltest du das ändern. Das Verdrängen scheint dir ja nicht zu helfen.“
„Das ist meine Sache.“
Wütend funkelte sie ihn an. Ihre Augen waren tiefgrün wie Smaragde. „Das finde ich nicht. Mediziner sind keine Götter, Harry. Trotzdem müssen wir unser Bestes geben, auch wenn das nicht immer gut genug ist. Wir können nicht jeden Patienten retten. Natürlich ist das grausam. Aber wie viel mehr Menschen würden sterben, wenn alle Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger deswegen ihrem Beruf den Rücken kehrten. Kannst du mit diesem Wissen leben?“
Diese Diskussion führte zu keinem Ergebnis. Er hätte ihr nicht nachlaufen sollen. „Bonnie, mein ärztlicher Instinkt hat mich im Stich gelassen! Ich wünschte, ich könnte in einer Situation wie heute so ruhig und besonnen reagieren wie du.“
Sein zerknirschter Tonfall nahm ihr den Wind aus den Segeln. Auf einmal verspürte sie Mitleid mit ihm. „Du hast mich hinterher nicht gesehen. Als ich in meinem Zimmer war, musste ich mich übergeben und habe am ganzen Leib gezittert. Da war von Ruhe und Besonnenheit wirklich keine Spur.“
„Das ist etwas anderes. Als es darauf ankam, hast du genau richtig gehandelt. Und deswegen konnte heute eine Mutter ihre kleine Tochter lebend in die Arme schließen.“
Bonnie mochten die gleichen Zweifel plagen wie ihn, aber der Unterschied war, dass sie sich nicht von ihren Ängsten leiten und verunsichern ließ. Wehmütig dachte Harry daran, dass er früher anders gewesen war. Der Erste an jeder Unfallstelle. Der Held der Royal Flying Doctors. Wie tief war er seitdem gesunken.
Er hatte Bonnie im Stich gelassen. Er hatte sich selbst im Stich gelassen.
Bonnie sah ihn prüfend an. „Wie geht es der Kleinen jetzt?“
Wenigstens diese Frage konnte er ihr beantworten. „Den Umständen entsprechend gut. Ich denke, sie wird keine bleibenden Schäden davontragen.“
„Gut.“ Sie brachte ein zaghaftes Lächeln zustande. Dann nahm sie ihren Koffer. „Jetzt muss ich wirklich gehen.“ Harry fühlte sich auf einmal so einsam wie nie zuvor. Wenigstens hatte er versucht, ihr eine Erklärung zu liefern. Das musste ihm Trost genug sein.
Bonnie ging ein paar Schritte und drehte sich dann noch einmal zu ihm um. „Du solltest der Medizin noch eine Chance geben, Harry. Vielleicht findest du eines Tages deinen Frieden.“
Harry sah ihr nach, als sie durch den Eingang zur Sicherheitskontrolle verschwand. Sie hatte ihm einige Dinge an den Kopf geworfen, über die er nicht nachdenken wollte, aber nun blieb ihm keine Wahl. War er wirklich so egoistisch und von sich selbst eingenommen? Er hatte sich doch nur schützen wollen. Oder hatte ihn die Angst vor der Rückkehr in seinen Beruf blind für die Veränderungen in seinem Charakter werden lassen?
Was hatte Bonnie vorhin gemeint? Dass er seine Frau und sein Kind möglicherweise deshalb verloren hatte, weil jemand anderes ihnen nicht zu Hilfe gekommen war, der seiner ärztlichen Berufung den Rücken gekehrt hatte? Galt das dann nicht ebenso in Bezug auf seine Absage an Steve in Ayers Rock?
Er konnte diesen Job unmöglich annehmen. Wirklich nicht? Heute Morgen am Pool hatte er letztendlich richtig entschieden, aber es war knapp gewesen. In der Medizin waren Fehler unvermeidlich. Würde er dem Druck standhalten oder langfristig an seinen Schuldgefühlen zugrunde gehen?
Andererseits – was waren die Alternativen? Sein Leben kam ihm auf einmal leer und sinnlos vor.
Auf der Rückfahrt nach Ubud sah er seine Umgebung und die Dinge, die ihm lange selbstverständlich erschienen waren, mit neuen Augen – so wie Bonnie sie vielleicht sehen würde.
Ihm fielen die vielen Motorräder auf, die ganze Familien und ihre Habseligkeiten transportierten. Kleine Kinder saßen ungesichert auf Getreidesäcken oder zwischen Stapeln von Waren, Haushaltsgegenständen und Einkäufen, die mehr schlecht als recht befestigt waren. Mütter balancierten ihre Säuglinge in voller Fahrt auf dem Arm.
Auf Bali war das ein alltäglicher Anblick, da kaum eine Familie sich ein
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