Julia Timoschenko - die autorisierte Biografie
30 schon mehrere Kämpfe hinter sich – nicht nur mit der Feder und nicht nur in Kiew. Zusammen mit seinem Vater, der die Nationale Front »Für ein freies Georgien« anführte, hatte er sich während der Perestroika aktiv politisch betätigt. Als Georgien frei wurde, kämpfte er mit der Waffe in der Hand im Bürgerkrieg gegen das Gamsachurdia-Regime. Später hielt er als Frontberichterstatter das georgisch-abchasische Gemetzel mit der Videokamera fest. Dort wurde er von einem Granatsplitter schwer verletzt.
1992 ließ sich Gongadse in der Ukraine nieder.
Leonid Kutschmas Zorn bekam er zum ersten Mal 1997 zu spüren, als er im Fernsehen enthüllte, dass der Präsident 200 seiner Freunde aus Dnipropetrowsk auf hohen Posten in Kiew platziert hatte. Vor der Wahl von 1999 rief er über den Rundfunksender »Kontinent« dazu auf, gegen Kutschma zu stimmen. Als einer der Ersten erkannte er, welche Rolle das Internet in einem unfreien Land spielen konnte. Er gründete die Netzzeitung Ukrainskaja Prawda . Die stand in klarer Opposition zum Präsidenten.
Zweieinhalb Monate nach Gongadses Verschwinden lud der Vorsitzende der Sozialistischen Partei, Oleksandr Moros, am 28. November 2000 zu einer Pressekonferenz ein. Vor ihm auf dem Tisch stand ein Kassettenrekorder. Sein Mitarbeiter Juri Luzenko startete das Band. Im Raum wurde es totenstill. Alle hörten die schlecht zu verstehende, aber nur allzu bekannte Stimme Leonid Kutschmas.
Das waren Mitschnitte von Unterredungen des Präsidenten mit engen Vertrauten. Dabei ging es um Gongadse. Sie demonstrieren, welch brennenden, absolut irrationalen Hass Kutschma gegen den Journalisten empfand, den er nur »Abschaum« nannte. In Gesprächen mit dem Chef der Präsidialadministration Lytwyn, Innenminister Krawtschenko und dem Vorsitzenden des Sicherheitsdienstes Derkatsch, forderte der Präsident, grässlich fluchend und schäumend vor Wut: »Gongadse? Wann würgt ihr dem nun endlich eine rein?« Und weiter: »Schafft ihn nach Georgien und schmeißt ihn dort raus … Die Tschetschenen sollen ihn klauen und dann Lösegeld …« In einem späteren Mitschnitt meldete der Innenminister dem Präsidenten Gongadses Verschwinden. Kutschma lachte schadenfroh: »In Tschetschenien, die Tschetschenen haben ihn sich geholt.«
Die Tonbandaufnahmen von 15 bis 20 Minuten Länge schlugen wie eine Bombe ein – zunächst in der Ukraine und der GUS, dann auch weltweit.
Später berichtete Moros, wie die Mitschnitte entstanden waren. Eines Tages sei der Major der ukrainischen Staatssicherheit, Mykola Melnytschenko, bei ihm aufgetaucht und habe ihm mitgeteilt, dass er seit Langem Gespräche im Büro des Präsidenten, in dessen Speisezimmer und in der Sauna aufgenommen habe. Der Mann, der zunächst einen etwas merkwürdigen Eindruck machte, behauptete, er sei damit seinem Gewissen gefolgt. »Als ich Kutschma abhörte, habe ich begriffen, dass unser Präsident ein Bandit ist«, sagte er zur Begründung seiner Handlungsweise. Anfangs habe er, wenn man ihm glauben will, Kutschma sogar umbringen wollen, sich dann aber dafür entschieden, »die Verbrechen zu dokumentieren«.
Es wäre übertrieben zu behaupten, dass die Ukrainer sofort glaubten, Kutschma habe den Befehl zur Ermordung des Journalisten gegeben. Aus den Mitschnitten, deren Echtheit selbst der Präsident anfangs nicht besonders heftig dementierte, ging nur hervor, dass er von Gongadse regelrecht besessen war. In der Öffentlichkeit herrschte Befremden vor. Warum hatte man den Unglücklichen geköpft? Und wenn der Mord tatsächlich auf das Konto der Behörden ging, wieso war die Leiche dann gefunden worden? Oder hatte jemand die ganze Sache von Anfang an so eingefädelt – ihn zu ermorden und kein Geheimnis daraus zu machen? Wer sollte das gewesen sein?
Auf diese und viele andere Fragen gibt es bis heute keine plausible Antwort.
Kutschma, der ratlos war, wie er auf diesen Vorgang reagieren sollte, hüllte sich zunächst über eine Woche lang in Schweigen. Es heißt, in den ersten Tagen nach Moros’ Enthüllung sei er so niedergeschmettert gewesen, dass er sogar an Rücktritt dachte. Er sah sich nackt und bloß seinen Feinden ausgeliefert. Es heißt, er sei verstummt, habe lange kein Wort gesprochen und sich nur mit gehetztem Blick nach versteckten Mikrofonen umgesehen. Offenbar war ihm bewusst geworden, dass jedes Wort, das er fallen ließ, auf Tonband aufgezeichnet zu ihm zurückkehren konnte.
Wenn man den Gerüchten Glauben schenken
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