Julia Timoschenko - die autorisierte Biografie
Macht nehmen. Dann hätte sie ihren Posten behalten, aber ihr Gesicht verloren.
Darauf lief es letzten Endes hinaus. Was würde weiter passieren? Man hatte einen Journalisten ermordet. Auf Tonbändern, die bereits das ganze Land auswendig kannte, hatte der Präsident Abrechnung mit Gongadse gefordert. Und nun sollte sie, Julia Timoschenko, die das Volk liebte, weil sie sich für seine Nöte eingesetzt, kühn den Kampf gegen die Korruption und anderes Unrecht aufgenommen hatte, bescheiden beiseitetreten, die Augen niederschlagen und den Mund halten? Dann lieber selber den Rücktritt erklären und aus dem Lande gehen.
Es scheint nur so, als habe ein Politiker immer die freie Wahl. Die Wahl ist sehr beschränkt, besonders bei Menschen wie ihr. Darüber wird Julia Mostowa bald nach ihrer Verhaftung im Kiewer Serkalo Nedeli schreiben: Julia Timoschenko »ist zu einer ernsten Gefahr für die Staatsmacht und zu einer ebensolchen Stütze für die Opposition geworden. Das Wesentliche aber ist, dass sie jetzt eine Bedrohung für sich selbst darstellt. Sich wegducken hieße, sich selbst untreu werden …« Die Vergangenheit hat sie eingeholt. Sie treibt sie ins Gefängnis.
In diesen Tagen hat Julia Timoschenko öfter als gewöhnlich mit ihrer 20-jährigen Tochter in London telefoniert. Sie hat ihr offen gesagt, dass sie verhaftet werden kann. Bereits als Halbwüchsige musste Jewgenia mehrfach stundenlange Verhöre über sich ergehen lassen. Erbarmungslos versuchten Ermittler, Informationen über die Geschäfte der Eltern aus ihr herauszuholen. Sie hat den Vater im Gefängnis besucht und kennt die Umstände. Jetzt soll sie ihrer Mutter raten, was zu tun ist. Einlenken oder den Kampf fortsetzen? In der Regierung bleiben oder hinter Gitter gehen?
Dabei weiß die Tochter, dass der Entschluss ihrer Mutter längst feststeht und sie von ihr nur Unterstützung erwartet.
Beide finden die richtigen Worte füreinander und beide brechen ganz sicher in Tränen aus, nachdem die Verbindung getrennt ist. Auch an diesem Morgen nimmt Julia Timoschenko die fertig gepackte Tasche für den Notfall mit, als sie aus dem Haus geht.
Auf der Fraktionssitzung erklärt sie mit leiser Stimme, die Sondersitzung der Rada zum Fall Gongadse sei notwendig. Batkiwtschina wird dafür stimmen. Am 8. Dezember votieren 241 von 450 Abgeordneten der Obersten Rada, unter ihnen die Fraktion Julia Timoschenkos, gegen den Präsidenten. Der Fall Gongadse wird zur Angelegenheit des Parlaments.
Über Kutschmas Schicksal wird in diesen Tagen aber nicht nur in Regierungsbüros und auf Parlamentssitzungen entschieden.
Im kalten Dezember des Jahres 2000 erschienen auf Kiews Straßen Demonstranten mit Plakaten und Spruchbändern gegen den Präsidenten. Die erste Welle von Protestaktionen rollte an. Die Bewegung erhielt den Namen »Eine Ukraine ohne Kutschma«. An ihrer Spitze standen die Sozialisten von Oleksandr Moros. Der Koordinator war Juri Luzenko, der auf Moros’ berühmter Pressekonferenz den Kassettenrekorder eingeschaltet hatte. Ihnen schlossen sich weitere Kräfte der Opposition verschiedenster Couleur an. Als Neujahr vorüber war, strömten die Demonstranten aus allen Teilen der Ukraine nach Kiew. Auf dem Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit, schlugen Studenten ein Zeltlager auf, das sie nicht eher räumen wollten, bis der Präsident zurückgetreten sei.
Die Behörden suchten die Protestwelle zu dämpfen. Demonstranten, die nach Kiew wollten, mussten plötzlich feststellen, dass ihre Eisenbahnwagen am Stadtrand abgekoppelt wurden oder jemand die Reifen ihrer Busse durchstochen hatte. Aber davon ließen sich die Leute nicht aufhalten. Mehrere Tausend skandierten im Zentrum von Kiew »Nieder mit Kutschma!« und verbrannten Bilder des Präsidenten. Die Demonstrationszüge nahmen meist die Route Maidan–Parlament–Präsidialadministration. Vier Jahre später sollten Hunderttausende diesen Weg gehen …
Die Staatsmacht fürchtet, dass Gewalt die Demonstranten nur provozieren könnte. Offen kann sie die Miliz nicht gegen sie einsetzen. Daher verlegt sie sich auf Provokationen. Während die Demonstranten vor der Präsidialadministration ihre Losungen rufen, wirft eine Gruppe junger Männer in schwarzen Jacken mit der Aufschrift »Anarchisten« Beutel mit Chlorgas ins Zeltlager und verprügelt die dort Verbliebenen. Die Miliz lässt sie gewähren. Im Rückblick wirkt auch das wie eine Probe für 2004. Die »Anarchisten« sind verkleidete Offiziersschüler des
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