Julia Timoschenko - die autorisierte Biografie
ernst zu nehmender Erfolg. Ihre Gegner, Journalisten und Soziologen, die sich auf Umfragen beriefen, ja selbst ihr eigener Wahlstab hatten bis zum letzten Tag ihre Zweifel, dass der »Block Julia Timoschenko« überhaupt die 4-Prozent-Hürde nehmen würde, die zum Einzug ins Parlament berechtigte.
Am Ende sollte sie recht behalten. Präsident Kutschma bewies bald, dass die Ukraine zwar nicht Russland, aber noch lange nicht Europa war. Er überspielte alle Oppositionellen – von den Gemäßigten bis zu den Radikalen. Zu seiner Trumpfkarte im Kampf ums Parlament wurden die direkt gewählten Abgeordneten, die keiner Partei verpflichtet waren. Natürlich spielte Geld eine Rolle. Als die Führungsorgane der Rada gewählt wurden, nannte Julia Timoschenko öffentlich, was eine Stimme für den Kandidaten der Staatsmacht gekostet hatte: 100 000 bis 200 000 Dollar.
Wie dem auch sei, für den Präsidenten hatte sich der Aufwand gelohnt.
Am 29. Mai 2002 wurde der Chef der Präsidialadministration und Vorsitzende des Wahlblocks »Einige Ukraine«, Wolodymyr Lytwyn, zum Parlamentspräsidenten gewählt. Er erhielt genau 226 von 450 Stimmen, nicht eine Stimme zu viel. Der Sieg wurde möglich durch den Verrat von sieben pragmatischen Abgeordneten aus Juschtschenkos Fraktion »Unsere Ukraine« und einem Kommunisten. Auch Lytwyns beide Stellvertreter kamen aus der Kutschma-Partei. Schließlich wurde auch der letzte Nagel in den Sarg der Träume der Opposition von einem zivilisierten Elitenwechsel im Lande geschlagen. Den nach Lytwyns Wahl frei gewordenen Stuhl des Chefs der Präsidialadministration erhielt Viktor Medwedtschuk, der Erste der sieben Kiewer Oligarchen. Ohne auf die Wahlergebnisse Rücksicht zu nehmen, schritt die Staatsmacht zur organisierten Umgruppierung ihrer Kräfte.
Als Lytwyn im Saal der Rada gewählt wurde, verkündete die Opposition eine Schweigeminute »zum Gedenken an die ukrainische Demokratie«. »Die führenden Posten des Parlaments werden von Leuten eingenommen, die die Wähler zu Außenseitern, zu marginalen politischen Kräften erklärt haben«, äußerte der ernüchterte Juschtschenko. Konkrete Schritte schlug der »ukrainische Havel« allerdings nicht vor. Um wenigstens etwas von dem Sieg zu retten, der ihm durch die Finger zu rinnen drohte, kämpfte er nun um die Posten der Vorsitzenden der Parlamentsausschüsse. Julia Timoschenko dagegen rief das Land von der Tribüne des Parlaments zu Akten zivilen Ungehorsams auf. Die Vorgänge um die Wahl hatten sie in ihrer Ansicht bestärkt, dass nur radikale Aktionen das Land retten konnten. Die Opposition, die in der Rada verloren hatte, musste den Sieg auf der Straße suchen.
Die neue Welle von Demonstrationen verlief unter der Losung »Steh auf, Ukraine!«. Anlass war der zweite Jahrestag des Verschwindens von Georgi Gongadse. Noch waren die Leidenschaften des Wahlkampfes nicht abgeklungen. Die Menschen empörten sich darüber, dass die für die Opposition abgegebenen Stimmen überhaupt nichts wert sein sollten. Im September 2002 gelang es Julia Timoschenko und ihren Verbündeten in der Opposition zum letzten Mal vor der Orangenen Revolution, die Menschen in Bewegung zu bringen.
Diesmal schlossen sich ihr und Moros’ Sozialisten auch die Kommunisten an, die sich ebenfalls von der Staatsmacht betrogen fühlten. Die Protestaktionen begannen im Sommer in der Provinz. Am 16. September 2002 standen 50 000 Menschen auf dem Europa-Platz im Zentrum von Kiew und skandierten unter den roten Bannern der Kommunisten und ukrainischen Nationalflaggen donnernd: »Nieder mit Kutschma!« Sie forderten vorgezogene Präsidentschaftswahlen und eine parlamentarische Mehrheit der Parteien, die im März gesiegt hatten. Bei der Bewertung von Kutschmas Leistung taten sich die Redner keinen Zwang an. Dem Staatschef wurde vorgeworfen, er habe eine demografische Katastrophe ausgelöst, die Bevölkerung schrumpfe, sechs Millionen Menschen hätten das Land verlassen, um im Ausland ihr Brot zu verdienen. Man nannte ihn den »Vater von Kinderprostitution, Drogensucht und Obdachlosigkeit«.
In diesen Tagen erschien Juschtschenko zum ersten Mal im Leben bei den Demonstranten auf der Straße. Bisher hatte er nur auf Wahlkundgebungen gesprochen. Der 16. September wurde zu seinem Debüt bei Protestdemonstrationen gegen den Präsidenten. Gemeinsam mit den anderen Oppositionsführern unterzeichnete er die Resolution. Auf der Kundgebung redete er, wie immer, verworren und wenig
Weitere Kostenlose Bücher