Julia Timoschenko - die autorisierte Biografie
verständlich. Aber den Leuten genügte es schon, dass er bei ihnen war. Was er sagte, hielten sie für nicht so wichtig. Juschtschenko selbst aber wurde in der Überzeugung bestärkt, dass Demonstrationen nicht seine Sache seien. An den Aktionen im Fernsehzentrum und in der Präsidialadministration eine Woche später beteiligt er sich nicht, lässt aber Timoschenko, Moros und Symonenko von Vertretern seines Blocks begleiten. Er selber ruft in jenen Tagen zur Schaffung einer »konstruktiven Mehrheit«, zur »Einrichtung eines ständigen runden Tisches aller politischen Kräfte« auf.
Wieder sind die politischen Beobachter verwirrt und können sich auf die Worte und Taten des Vorsitzenden der größten Parlamentsfraktion keinen Reim machen. »Juschtschenko bleibt konsequent in seiner Inkonsequenz«, schreibt einer von ihnen. »Im letzten Augenblick hat er in das Spiel anderer eingegriffen. Er ist mit einem großen Teil seiner Fraktion bei einer Aktion erschienen, hat auf einer Kundgebung gesprochen. Seine Rede hat er mit einer harten Kritik an der Staatsmacht begonnen und dann … zum Dialog mit ihr aufgerufen. Danach hat er die Forderung nach dem Rücktritt des Präsidenten unterschrieben. Anschließend … ist er nach Hause gegangen. In seinen Äußerungen nach der Auflösung des Zeltlagers waren wieder oppositionelle Töne zu hören … Da verstehe einer die Logik dieses Politikers!«
Klar ist eines: Mit dem 16. September war Viktor Juschtschenkos Vorrat an revolutionärem Potenzial erschöpft.
Das galt im Übrigen auch für das Volk. Die Herbstproteste schäumten hoch, fielen aber dann rasch wieder in sich zusammen. Nach dem heißen September versank die Ukraine in frostiger Erstarrung. Die sollte zwei Jahre lang anhalten.
Dass die Protestwelle diesmal so rasch und wirksam unterdrückt werden konnte, schreiben Beobachter einem neuen Akteur in der Mannschaft der Staatsmacht zu – dem cleveren und entschlossenen Viktor Medwedtschuk, den der Präsident gerade erst zum Chef seiner Administration ernannt hat. Er wird in den Jahren darauf zum wichtigsten Manager der politischen Stagnation im Lande.
Ein weiterer Anfänger in der Mannschaft der Staatsmacht hat sich in diesen Tagen frische Lorbeeren erworben.
Am 2. August, die Wahlen sind gerade vorüber, nimmt der neue Generalstaatsanwalt der Ukraine, Swjatoslaw Piskun, das Strafverfahren gegen Julia Timoschenko wieder auf. Etwas Neues ist ihm nicht eingefallen. Noch einmal geht es um JeESU, um die Unterschlagung riesiger Summen, um Untreue, Steuerhinterziehung mit schwindelerregendem Schaden für den Staat … Julias Anwälte bekommen wieder zu tun. Und erneut der Versuch, Julia Timoschenko die in den Wahlen frisch erworbene Immunität zu rauben. Zwischen der ersten Oppositionellen des Landes und seinem Generalstaatsanwalt bricht ein neuer Krieg aus.
Dieser wird Julia Timoschenko sowohl glänzende Siege, große politische Auftritte, die sie so liebt, und Präzedenzfälle bescheren, die in die Lehrbücher der Rechtsprechung der Ukraine eingehen, aber auch bittere, vernichtende Niederlagen. Vor allem wird sie in diesem Krieg ihre revolutionäre Energie für die Rettung ihrer selbst und ihrer Angehörigen vor dem Gefängnis verschwenden müssen. Für die Revolution bleibt immer weniger Zeit. Genau darauf setzen Kutschma und Medwedtschuk. Was am Tag nach einer möglichen Inhaftierung der wilden Julia passiert, können sich beide nur zu gut vorstellen. Soll sie sich doch stattdessen stundenlang mit ihren Anwälten beraten, die Gesetze studieren und vor Gericht Rede und Antwort stehen müssen.
Ihre Sternstunde in diesem neuen Krieg kommt, als sie im Sitzungssaal des Parlaments direkt auf ihren Gegner Piskun trifft. Als der Generalstaatsanwalt dort von seinem Kampf gegen Unterschlagung und Korruption spricht, erregt sie damit Aufsehen, dass sie von dem Redner fordert, er möge den Abgeordneten seine Armbanduhr vorzeigen. Piskun gerät aus dem Takt, versteht nicht, was das soll. Julia Timoschenko erklärt es ihm, und das ganze Land sieht zu: »Der Generalstaatsanwalt trägt eine Uhr von Vacheron Constantin. Wenn ein Staatsanwalt, der monatlich 300 Griwna verdient, eine Uhr für 10 000 Dollar sein Eigen nennt, dann kann man schon auf den Gedanken kommen, dass er, Kutschma und der Innenminister ein und derselben kriminellen Bande angehören.«
Julia Timoschenko personifiziert jeden ihrer politischen Kriege. Im Unterschied zu Juschtschenko kämpft sie nie gegen
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