Julia-Weihnachten Band 23
und die grün-gelb gestreiften Krawatten so ungewohnt für sie waren, hatten die Mädchen nichts dagegen einzuwenden.
Natürlich hätte Clemmie die Sachen auch in einem Secondhandshop besorgen können. Doch ihr Stolz hatte sie daran gehindert, diese Möglichkeit auch nur in Erwägung zu ziehen. Die Mädchen hatten sowieso mit etlichen Schwierigkeiten zu kämpfen: Sie waren Scheidungskinder, lebten in einem ihnen fremden Land und mussten sich auf eine neue Schule einstellen. Auf keinen Fall wollte Clemmie riskieren, dass sie wegen getragener Kleidung aufgezogen wurden. Lieber würde sie auf alles andere verzichten.
Während die Mädchen sich wieder umzogen, hörte Clemmie plötzlich eine Stimme hinter sich zögernd fragen: „Clemmie? Clemmie Powers?“
Clemmie drehte sich um und betrachtete nachdenklich die Frau, die sie angesprochen hatte. Sie war ungefähr in ihrem Alter. Das Gesicht mit den winzigen ersten Fältchen kam ihr irgendwie bekannt vor …
„Du bist es tatsächlich! Ich habe gehört, dass du zurückgekommen wärst“, sagte die Frau. „Du erinnerst dich nicht an mich, nicht wahr? Ich bin Mary Adams. Wir haben …“
„… uns bei dir zu Hause für den Ball am Ende des Schuljahres zurechtgemacht“, ergänzte Clemmie lächelnd. „Natürlich erinnere ich mich an dich! Wie geht es dir, Mary?“
„Ausgezeichnet“, antwortete Mary strahlend. „Ich bin verheiratet und habe einen siebenjährigen Sohn, der wie Unkraut wächst. Deshalb all die neuen Klamotten für die Schule.“ Zum Beweis hielt sie mehrere prall gefüllte Tragetaschen in die Höhe. „Und was ist mit dir?“
Clemmie behielt ihre fröhliche Miene bei. Dabei musste sie bei solchen Fragen ständig an ihre zerbrochene Ehe denken. Und diese Gedanken wurden stets von dem Gefühl begleitet, gescheitert zu sein. Immer wieder hatte sie sich gesagt, dass sie keine Schuld gehabt hatte, dass sie alles versucht hatte. Doch ihrem Mann hatten auch andere Frauen gefallen, und er hatte nicht eingesehen, weshalb eine Ehefrau ihn in seiner Lebensweise einschränken sollte. Für ihre Töchter hatte sie ihren verletzten Stolz hinuntergeschluckt und Bill eine Eheberatung vorgeschlagen. Aber er hatte energisch abgewehrt und erklärt, Eheberater seien etwas für Schwächlinge. Das war das Ende gewesen.
„Ich habe zwei wunderschöne Töchter“, erklärte Clemmie stolz. „Ihr Vater ist allerdings in Amerika geblieben. Wir sind geschieden. Ich habe das Haus meines Stiefvaters geerbt. Deshalb sind wir hierher zurückgekehrt – für immer.“
Mary zog ein betrübtes Gesicht. „Du bist zumindest weiter gereist als ich und hast etwas von der Welt gesehen“, meinte sie. „Ich bin nie aus Ashfield herausgekommen.“
„Beständigkeit hat auch ihre Vorzüge“, stellte Clemmie sehnsüchtig fest. „Du hast hier deine Wurzeln und dir ein gutes Leben aufgebaut.“
Sie sahen einander an und mussten plötzlich lachen.
„Wir klingen, als wollten wir uns unbedingt gegenseitig bewundern“, sagte Mary.
„Frei nach dem Motto: Die Kirschen in Nachbars Garten sind süßer“, meinte Clemmie.
„Du hast es erfasst!“
Vor dem Laden hielt nun ein Wagen. Als kurz gehupt wurde, blickte Mary über ihre Schulter. „Das ist so typisch: mein Ehemann! Weshalb tauchen Männer immer auf, wenn man sie nicht gebrauchen kann? Da draußen ist außerdem Halteverbot, also beeile ich mich lieber. Ich gebe dir noch schnell meine Telefonnummer.“ Sie holte Stift und Papier aus ihrer Schultertasche, notierte einige Ziffern und reichte Clemmie den Zettel. „Komm doch abends mal auf einen Drink vorbei.“
„Ja, gern“, willigte Clemmie sofort ein. „Ich kenne keine Menschenseele in Ashfield!“ Abgesehen von Alec Cutler, natürlich. Aber der zählte nicht.
Am Montagmorgen brachte Clemmie Justine und Louella zur Schule. Sie blieb am Tor stehen und beobachtete, wie die beiden das Gelände betraten. Sie wirkten so jung und verletzlich in ihren neuen Uniformen. Doch sie winkten lebhaft zurück, und Clemmie war froh, dass sie eher freudige Erwartung als Besorgnis in ihren Gesichtern las.
Ein Lehrer begrüßte die beiden und führte sie zu den anderen Kindern auf dem Schulhof. Kurz darauf waren sie in der kleinen Menge verschwunden. Ihr neues Leben in England hatte begonnen.
Die Glocke läutete, und der Pausenhof leerte sich rasch. Clemmie schluckte ihre Gefühle hinunter – sie war traurig und gleichzeitig stolz, dass ihre Kinder größer wurden.
Aber jetzt hatte sie frei.
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