Julia-Weihnachten Band 24
„Ich würde gern mitkommen, wenn es dir nichts ausmacht“, sagte er.
Marnie zögerte so lange mit ihrer Antwort, dass er schon befürchtete, sie würde ablehnen, aber schließlich antwortete sie: „Na gut, warum nicht? Ich sage rasch Granny Bescheid.“
Erst als sie fort war, wurde Tom bewusst, dass sie ihn während des ganzen Gesprächs nicht angesehen hatte. Nicht ein einziges Mal.
9. KAPITEL
Der Anblick der winterlichen Landschaft während der Autofahrt weckte bei Tom bittersüße Erinnerungen. Bei seiner Ankunft mit Cody hatte er seiner Umgebung nicht allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt, aber jetzt kehrten die Erinnerungen schlagartig zurück.
Sie fuhren über den Bach, in dem er als Kind immer geangelt hatte. Nicht als Hobby, sondern weil es zu Hause fast nie genug zu essen gegeben hatte. Im Grunde genommen war er eigentlich immer hungrig gewesen. Und er hatte sich seiner Armut schrecklich geschämt.
Marnie fuhr einen Umweg durch das neue japanische Viertel, um ihm zu zeigen, wie sehr die Stadt während seiner Abwesenheit gewachsen war, und bog kurz darauf in die Hauptstraße ein.
Als sie an der Highschool vorbeifuhren, kam Tom das massige Ziegelgebäude im grauen Dezemberlicht genauso bedrohlich vor wie in seiner Kindheit. Damals war er hier jeden Morgen aus dem Bus gestiegen und hatte sich innerlich gegen das gewappnet, was ihm dort drinnen bevorstand.
Für einen flüchtigen Moment glaubte er wieder das Geräusch der Spindtüren zu hören und nasse Socken zu riechen. Seine Haut begann bei der Erinnerung an die vielen mehr oder weniger unverhüllten Beleidigungen zu kribbeln. Doch das Schlimmste waren die mitleidigen Blicke wegen seiner schäbigen Kleidung und seines schlechten Haarschnitts gewesen.
Aber immerhin war diese Schule auch der Ort, an dem er Marnie zum ersten Mal begegnet war. Hier hatte er seine erste Eins bekommen und miterlebt, wie seine Lehrer ihn zunächst ungläubig und dann voller Respekt behandelten.
Tom straffte die Schultern und versuchte, die Vergangenheit abzuschütteln. Schließlich war er nicht mehr derselbe wie früher.
Marnie hatte ihm offenbar angesehen, was in ihm vorging. „Hasst du Ryder’s Crossing wirklich so sehr?“, fragte sie.
„Was meinst du damit?“
„Deine Körpersprache eben war ziemlich eindeutig“, antwortete sie. „Du sahst plötzlich wieder wie der Junge von damals aus.“
„Wirklich?“ Tom war überrascht über Marnies Einfühlungsvermögen. „Das war mir gar nicht bewusst.“
„Du kannst ruhig damit aufhören, die Fäuste zu ballen“, sagte sie.
Verlegen entspannte Tom die Hände. „Ich weiß, wie irrational das ist, aber nach dem Highschoolabschluss hatte ich noch eine Ewigkeit das Gefühl, dass dieser Ort hier ein Strudel ist, der mich wieder in die Vergangenheit saugen will.“
„Das muss wirklich schrecklich gewesen sein“, räumte Marnie seufzend ein. „Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir noch kurz bei der Buchhandlung vorbeifahren? Ich möchte für Cody noch ein Weihnachtsgeschenk holen.“
„Kein Problem. Ich wollte mir deinen Laden sowieso mal ansehen.“
Jetzt, wo die schmerzlichen Erinnerungen wieder verblasst waren, konnte Tom die Fahrt in die Innenstadt sogar genießen. Er freute sich über den Anblick der weihnachtlich geschmückten Schaufenster.
Schließlich parkten sie unter einem Schild, auf dem der Name von Marnies Buchhandlung stand: Afton Bücher – Schreibwaren – Geschenke. Marnies Mädchennamen zu sehen, versetzte Tom einen Stich, aber natürlich machte es Sinn. Man kannte sie hier fast nur unter ihrem Mädchennamen, und außerdem war sie nun einmal nicht mehr mit ihm verheiratet.
„Willst du nicht reinkommen?“, fragte Marnie, die vor der Tür auf ihn wartete.
„Doch, natürlich.“ Als Tom aus dem Kombi stieg, schlug ihm die kalte Dezemberluft entgegen. Von einer benachbarten Bäckerei stieg ihm der Duft von Zimt in die Nase.
Der Laden war viel größer als gedacht. Das riesige Büchersortiment, die vielen Ständer mit Glückwunschkarten und die Regale voller Stofftiere und Geschenkartikel waren wirklich beeindruckend. Tom fiel sofort auf, dass der Laden trotz seiner Größe eine sehr gemütliche Atmosphäre hatte.
Beim Klingeln der Ladentür blickten zwei Kunden auf, und kurz darauf eilte eine ihm bekannt vorkommende Frau in einem rotkarierten Kleid auf Tom zu. „Meine Güte, das ist ja Tom Jakes!“, rief Marnies beste Freundin Betty Simpson. „Kaum zu glauben!“
Tom brauchte einen
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