JULIA WEIHNACHTSBAND Band 22
Zeit?“
Jodie blickte auf, und ihr fröhlicher Gesichtsaudruck verschwand, als sie seine grimmige Miene sah. „Selbstverständlich, Dr. Taylor.“ Noch einmal wandte sie sich an das kranke Mädchen und tippte ihn zärtlich auf die Nasenspitze. „Bis morgen, Amy. Schenkst du mir noch ein Lächeln?“
„Okay“, sagte Amy und verzog tapfer die Mundwinkel, obwohl sie enttäuscht war, nun wieder allein sein zu müssen.
Sam ließ Jodie den Vortritt und schloss die Tür. „Die Hälfte der Visite ist noch zu machen“, setzte er vorwurfsvoll an.
„Ich weiß“, gab Jodie ruhig zurück.
Seine stahlgrauen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Trotzdem spielen Sie in aller Seelenruhe mit Amy Simcox?“
Sie nickte, scheinbar ungerührt. „Unzählige Untersuchungen haben gezeigt, wie wichtig es ist, dass kranke Kinder auch mal lachen. Und davon abgesehen ist heute mein freier Tag.“
Der Punkt ging an sie. Sam fluchte innerlich. Doch so schnell gab er nicht auf. „Tut mir leid, das wusste ich nicht. Leider weigern Sie sich ja hartnäckig, bei der Arbeit einen weißen Kittel zu tragen. Und deshalb“, fuhr er fort, und seine Stimme war gefährlich sanft, „ist es ziemlich schwierig zu erkennen, ob Sie Dienst haben oder nicht.“
Nun schoss Jodie das Blut in die Wangen. Aber sie ließ sich nicht einschüchtern. „Nach meiner Erfahrung flößt ein weißer Kittel Kindern noch mehr Furcht ein, als die Krankenhausatmosphäre es ohnehin schon tut.“
„Und wie können die Eltern dann sicher sein, dass Sie sich nicht nur als Ärztin ausgeben?“, schoss er zurück. „Mit einem Stethoskop um den Hals und Akten unter dem Arm kann jeder herumlaufen.“
„Zugegeben.“ Sie schenkte ihm ein verschmitztes Lächeln, das ihn nur noch mehr in Rage brachte. „Einen Arztkittel kann sich aber auch jeder besorgen – einen Dienstausweis dagegen nicht.“ Sie fischte die kleine Plastikkarte aus der Tasche ihrer Jeans.
Sam wusste, er müsste die junge Assistenzärztin eigentlich darauf hinweisen, dass sie sich ihm gegenüber im Ton vergriff. Doch der angriffslustige Glanz in ihren Augen sagte ihm, dass sie genau darauf wartete. Er war höchstens sechs oder sieben Jahre älter als sie, doch im Moment fühlte er sich, als läge eine ganze Generation zwischen ihnen.
„Was machen Sie überhaupt hier, an Ihrem freien Tag?“, wechselte er jetzt das Thema. „So viel Engagement ist doch ziemlich ungewöhnlich. Denken Sie, dass Sie auf diese Weise schneller Karriere machen?“ Er wusste, dass er ihr unrecht tat. Sie war nicht der Typ, der mit unfairen Mitteln die Kollegen ausstach.
„Ich wollte nur ein wenig Zeit mit Amy verbringen.“ Jodie biss sich auf die Lippen. „Sie tut mir leid. Nicht nur, dass die Kleine in einem Alter ist, wo sie eigentlich putzmunter herumlaufen sollte, statt mit dem Hüftgips zur Bewegungslosigkeit verurteilt zu sein. Ihr Vater ist angeblich viel zu beschäftigt, um sie zu besuchen. Und die Mutter bricht jedes Mal in Tränen aus, wenn sie kommt.“
„Warum?“, fragte Sam Taylor verblüfft. Natürlich wusste er, dass einem guten Arzt das Schicksal seiner Patienten nicht gleichgültig war. Aber dennoch erstaunte ihn Jodies große Betroffenheit.
„Amys Mutter ist überzeugt, dass sie schuld ist an dieser Fehlstellung der Hüfte, weil sie während der Schwangerschaft einmal ein Glas Champagner getrunken hat.“ Jodie zuckte die Achseln. „Ich habe ihr unzählige Male erklärt, dass eine Hüftfehlstellung häufig vorkommt, wenn das Baby im Bauch der Mutter nicht richtig liegt. Der Kinderarzt hätte die Fehlentwicklung eigentlich schon bei der Routineuntersuchung mit sechs Wochen erkennen müssen, spätestens aber, als Amy mit anderthalb Jahren noch immer nicht richtig laufen konnte. Aber das Problem ist erst hier im Krankenhaus erkannt worden. Dabei wäre es bei einem Neugeborenen so einfach und schmerzfrei zu behandeln gewesen.“
Sie seufzte und fuhr fort: „Die Krankenschwestern sind sehr lieb zu der Kleinen, aber sie haben wenig Zeit. Deshalb bin ich manchmal in der Mittagspause oder nach Feierabend noch kurz bei Amy.“
„Machen Sie das bei all Ihren Patienten so?“, fragte Sam.
Jodie reckte das Kinn, und zum ersten Mal fiel ihm auf, dass sie kaum kleiner war als er.
„Nur bei denjenigen, die besondere Zuwendung brauchen“, entgegnete sie trotzig.
Ohne nachzudenken, erwiderte Sam: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr Freund dafür Verständnis hat.“ Im nächsten
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